
DMZ – HISTORISCHES ¦ Peter Biro
Die Prinzipien der modernen Physik basieren zu großen Teilen auf Einsteins Relativitätstheorie. Ihre Gültigkeit wurde vielfach durch Experimente und mathematische Berechnungen bestätigt. Umso erstaunlicher ist es, dass dieses zentrale Fundament unseres Verständnisses von Raum, Zeit, Materie und Energie ausgerechnet in Deutschland zeitweise massiv angezweifelt und ideologisch bekämpft wurde – vor und während der Herrschaft des Nationalsozialismus.
Im Einklang mit der NS-Ideologie lehnten viele Vertreter der akademischen Physik Einsteins Theorie als „jüdische Physik“ ab. Stattdessen propagierten sie eine „deutsche Physik“, die sich dem Weltbild der Machthaber fügte, international jedoch kaum Beachtung fand.
Der prominenteste Gegner Einsteins war der Nobelpreisträger Philipp Lenard (1862–1947), Professor in Heidelberg. Im Völkischen Beobachter vom 13. Mai 1933 begrüßte er Einsteins Emigration aus Deutschland mit rassistischen Ausfällen und der Behauptung, dessen Theorien seien aus willkürlichen Annahmen abgeleitet und würden bei genauer Analyse „in sich zusammenfallen“.
Bemerkenswert ist, dass Einstein und Lenard einander anfangs mit großem Respekt begegneten. Einstein würdigte 1905 Lenards Arbeiten zum Photoelektrischen Effekt, Lenard wiederum konnte sich 1913 Einstein als Kandidaten für einen Lehrstuhl in Heidelberg vorstellen. Doch bereits wenige Jahre später zeigten sich fachliche Differenzen – etwa in der Frage nach der Existenz des Äthers als Medium für Lichtausbreitung. Einstein sprach in einem privaten Brief abfällig von Lenards „abstruser Ätherei“.
Spätestens ab 1920 wandelte sich Lenards Haltung zur offenen Feindschaft. Im selben Jahr organisierte der nationalistische Agitator Paul Weyland eine Hetzveranstaltung gegen die Relativitätstheorie in der Berliner Philharmonie. Lenard wurde ungefragt als Referent genannt, was Einstein zu einer deutlichen öffentlichen Gegenrede veranlasste: Lenard habe nichts zur theoretischen Physik beigetragen und sei daher nicht qualifiziert, die Relativitätstheorie zu beurteilen.
Die Konfrontation kulminierte im September 1920 auf der 86. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Bad Nauheim. Im Badehaus 8 kam es zur direkten Debatte zwischen Einstein und Lenard vor Hunderten Physikern. Eine Einigung blieb aus – doch angesichts der feindseligen Atmosphäre kann Einsteins Standhaftigkeit als moralischer Sieg gewertet werden. Ein Jahr später erhielt er den Nobelpreis – nicht für die Relativitätstheorie, sondern für seine Erklärung des Photoelektrischen Effekts.
Ein weiterer fanatischer Gegner war Johannes Stark (1874–1957), ebenfalls Physik-Nobelpreisträger. Er beklagte Einsteins wachsende Popularität im Ausland, titulierte eine Frankreich-Reise Einsteins als „trauriges Zeichen vom deutschen Verfall“ und wurde in der NS-Wissenschaftshierarchie mit zahlreichen Ehrungen bedacht. Gleichzeitig versuchte er, Einstein auch international zu diskreditieren, etwa mit einem 1938 veröffentlichten Artikel in Nature, in dem er die Relativitätstheorie als dogmatisch und jüdisch beeinflusst verunglimpfte.
Auch außerhalb Deutschlands fanden sich Einstein-Gegner – jedoch ohne staatliche Rückendeckung. In den USA gründete der Ingenieur Arvid Reuterdahl die obskure Academy of Nations mit dem Ziel, Gott und Wissenschaft in einer „New Science“ zu vereinen. In Zeitungsartikeln verspottete er Einsteins Theorien, und unter seinem Nachfolger Robert T. Browne driftete die Organisation in esoterisch-okkulte Gefilde ab – mit skurrilen Ideen wie der „Odkraft“, einem angeblich magnetismusähnlichen Fluidum. Die Bewegung verlor bald an Bedeutung und wurde innerhalb der Fachwelt nicht ernst genommen. In Europa formierten sich Gegner der Relativitätstheorie vor allem in Schweden, Serbien und der Schweiz. Besonders erwähnenswert sind die Versuche von Edouard Guillaume und René de Saussure, Einstein von der Idee einer Universalzeit zu überzeugen – ohne Erfolg.
Im Dritten Reich wurde die Verunglimpfung jüdischer Physiker systematisch betrieben. Auch Werner Heisenberg, der nicht jüdisch war, wurde als „weißer Jude“ diffamiert. Die nationalsozialistische Wissenschaft versuchte, abstrakte theoretische Ansätze als „undeutsche“ Physik zu diskreditieren – im Gegensatz zur angeblich „bodenständigen“ deutschen Experimentalphysik.
Nach der NS-Machtübernahme 1933 wurde Johannes Stark Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt und der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Lenard übernahm eine ideologische Beraterrolle im Reichserziehungsministerium. 1936 erhielt er den NS-Wissenschaftspreis, bei dessen Verleihung Alfred Rosenberg die Laudatio hielt. In seinem mehrbändigen Werk Deutsche Physik postulierte Lenard, dass wahre Naturerkenntnis nur der „arischen Rasse“ möglich sei. Einsteins Werk nannte er „Jahrmarktslärm“ und „Judenbetrug“.
Nach dem Krieg zog sich Lenard auf seinen Alterssitz in Messelhausen zurück. Aufgrund seines Alters blieb er von einer Entnazifizierung verschont und starb 1947. Die ideologisch geprägten Theorien der NS-Zeit wurden aus der wissenschaftlichen Rezeption getilgt. Viele Ehrungen Lenards wurden posthum aberkannt, Straßennamen geändert – etwa in München, Lemgo, Klagenfurt, Gatineau (Kanada) und 2020 in Lübeck. Lediglich in Lenards Geburtsstadt Bratislava trägt eine Straße noch seinen Namen. Der Mondkrater, der einst zu seinen Ehren benannt war, wurde 2020 offiziell umbenannt – ein neues Namenspendant steht noch aus.
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