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Cochrane unter Druck: Entscheidung zur Überarbeitung der ME/CFS-Studie sorgt für Empörung

DMZ – WISSENSCHAFT  ¦ A. Aeberhard

 

Die wissenschaftliche Integrität der Cochrane Collaboration gerät in die Kritik, nachdem die Organisation ihre geplante unabhängige Überarbeitung eines umstrittenen Reviews zu Bewegungstherapie bei Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) abrupt eingestellt hat. Zudem wurde das ursprünglich im Jahr 2019 veröffentlichte Review nun mit einer neuen Publikationsangabe auf das Jahr 2024 datiert, obwohl der Inhalt unverändert blieb und auf veralteten Studien basiert.

 

Wissenschaftliche Unabhängigkeit in Gefahr?

Cochrane ist für seine evidenzbasierten Überprüfungen medizinischer Interventionen international anerkannt. Aufgrund anhaltender Kritik an der Methodik der 2019 veröffentlichten Studie hatte Cochrane eine unabhängige Autorengruppe sowie eine unabhängige Beratungsgruppe (Independent Advisory Group, IAG) mit der Neuanalyse beauftragt. Die IAG bestand aus Vertretern von ME/CFS-Patientenorganisationen, Fachärzten und Experten für systematische Reviews.

 

Nach fast fünf Jahren intensiver Arbeit, unzähligen Sitzungen und der Sichtung tausender Seiten wissenschaftlicher Literatur wurde das Projekt jedoch im Dezember 2024 plötzlich gestoppt. Cochrane begründete dies damit, dass keine neuen relevanten Erkenntnisse vorlägen, die eine Überarbeitung rechtfertigen würden.

 

Veraltete Studien als aktuelle Evidenz?

Besonders umstritten ist die Entscheidung, das Review lediglich durch eine neue Publikationsangabe zu aktualisieren, ohne den Inhalt zu überarbeiten. Dies könnte den Eindruck erwecken, dass eine erneute wissenschaftliche Prüfung stattgefunden hat und die darin getroffenen Aussagen weiterhin gültig sind. Tatsächlich jedoch basiert die Analyse auf Studien, die mindestens zehn Jahre alt sind und nach heutigen wissenschaftlichen Standards nicht mehr als ausreichend gelten.

 

Ein zentraler Kritikpunkt ist, dass die ursprüngliche Studie nicht zwischen Patienten mit und ohne Post-Exertional Malaise (PEM) differenzierte. PEM gilt als Leitsymptom von ME/CFS und ist auch bei Long-COVID-Patienten weit verbreitet. Zahlreiche Betroffene berichten von einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustands nach Bewegungstherapie, eine Beobachtung, die durch aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen gestützt wird.

 

Protest aus der Wissenschaft und Patientenschaft

Die IAG hat in einem offenen Brief an das Cochrane-Gremium ihre Besorgnis über die plötzliche Kehrtwende geäußert. Die Experten kritisieren insbesondere die fehlende Transparenz der Entscheidung sowie die Weigerung, eine editorische Notiz zu veröffentlichen, die auf die veraltete Datenlage hinweist.

 

„Als Organisation, die den Anspruch hat, vertrauenswürdige Evidenz zu liefern, hat Cochrane die Verpflichtung, mit überholten Reviews verantwortungsvoll umzugehen“, heißt es in dem Brief. Eine Reaktion von Cochrane steht bislang aus.

 

Vertrauensverlust in Cochrane

Die Kontroverse um das ME/CFS-Review ist nicht der erste Fall, in dem Cochrane wegen mangelhafter wissenschaftlicher Arbeit in die Kritik gerät. Ein früheres Review zur Wirksamkeit von Masken gegen COVID-19 wurde in Fachkreisen scharf kritisiert, ebenso wie eine Analyse zu Steroidinjektionen bei Kaiserschnittgeburten, die auf fehlerhaften Studien beruhte.

 

„In einer Zeit, in der wir auf verlässliche wissenschaftliche Institutionen angewiesen sind, ist es erschreckend, dass wir uns nicht mehr auf Cochrane verlassen können – weder in Fragen der ME/CFS-Behandlung noch in anderen essenziellen Bereichen der öffentlichen Gesundheit“, kommentierte Jaime Seltzer, Wissenschaftsdirektorin von #MEAction, einer Organisation für ME/CFS-Betroffene.

 

Die aktuelle Debatte wirft grundsätzliche Fragen über wissenschaftliche Integrität und die Verantwortung von Institutionen wie Cochrane auf. Ob und wie die Organisation auf den wachsenden Druck reagiert, bleibt abzuwarten.

 

 


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