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Straumanns Fokus am Wochenende - Big Brother Is Watching You

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦

KOMMENTAR

 

Am kommenden Montag wird Donald Trump seine zweite Inauguration feiern und damit eine Herrschaft begründen, die die Welt noch nicht gesehen hat. Dank der neuen Freundschaft mit seinen Spezis aus dem Silicon Valley wird sich die politische Macht des Präsidenten der USA mit einem Imperium von digital-technischer und finanzieller Power zu einer Oligarchie ballen, deren Auswirkungen wir nicht erahnen können. Aufgrund der Zeitverschiebung zu Washington und der Verzögerung durch die mediale Aufarbeitung werden wir tags darauf, am 21. Januar, die Berichterstattung über das Ereignis und die augurenhaften Kommentare aus den Chefredaktionen zur Kenntnis nehmen.

 

Kein Datum könnte sinnreicher sein. Exakt vor 75 Jahren, am 21. Januar 1950, verstarb in London George Orwell, der Autor von Nineteeneightyfour. Orwells 75. Todestag fällt also just auf das Datum, das seiner Dystopie mehr Wahrheit einhauchen könnte, als er es sich in seinen schlimmsten Vorstellungen ausgemalt hat. Nineteeneightyfour (im Deutschen wird der Titel numerisch ausgeschrieben: «1984») ist die Horrorvision eines totalitären Staates, die Orwell unter dem Eindruck von Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinismus 1948 verfasst und unter Umkehrung der beiden Schlussziffern in die Buchläden der Welt gebracht hat. Dass seine Zeitabschätzung zum Glück unrealistisch war – zwischen 1948 und 1984 liegen nur 36 Jahre –, sehen wir dem Autor gerne nach. Jegliche Verzögerung zum Zustand, den Orwell skizzierte, ist ein Glücksfall.

 

Der Roman erzählt die Geschichte von Winston Smith, der im London des Jahres «1984» im Staate Ozeanien im Ministerium für Wahrheit seiner Arbeit nachgeht. Diese besteht darin, für die (einzige) Partei Engsoz die Geschichtsschreibung der jeweils aktuellen politischen Opportunität anzupassen.

 

Folgende Erläuterungen sind hier einzufügen. Erstens: Im Roman hat unsere Welt der Nationalstaaten aufgehört zu existieren. Es gibt nur noch drei Machtblöcke, nämlich Ozeanien, Eurasien und Ostasien, die ständig Krieg gegeneinander führen. London ist die Kapitale von Ozeanien. Zweitens: Das Ministerium für Wahrheit ist das Ministerium für Propaganda. Nebst ihm existieren noch drei weitere Ministerien, das Ministerium für Frieden (das den Krieg steuert), das Ministerium für Liebe (für Gesetz und Folter) sowie das Ministerium für Überfülle (das eine extreme Mangelwirtschaft verantwortet). Drittens: der Name der Partei Engsoz ist, leicht erkenntlich, aus den Wortstämmen England und Sozialismus zusammengesetzt. Parteimitglieder sind alle Menschen in der Umgebung von Winston Smith; unmöglich kann aber erkannt werden, wer die Mitglieder der Inneren Partei sind, die in Saus und Braus leben und Nutzniesser eines unerträglichen Überwachungsstaates sind. Der alles überwachende, alles registrierede Grosse Bruder ist, durch die überall platzierten Teleschirme (eine Kombination von Bildschirm, Lautsprecher, Kamera und Mikrophon), omnipräsent.

 

Die Geschichte von Winston Smith gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil sehen wir ihn in seinem Alltag, an seiner Arbeit, wo er Texte in Neusprech schreibt, in seinem schäbigen Konsum und als sich duckendes Opfer der Parteigewalt. Im zweiten Teil lernt Winston eine junge Frau kennen, Julia, die wie er aus der Totaldiktatur ausbrechen möchte. Julia wird seine Freundin. Der gemeinsame Sex, dem sie mit Leidenschaft frönen, ist ihre Revolte. Sex ist subversiv, ergo verboten – er generiert menschliche Nähe, die das System nicht zulassen kann. Winston und Julia finden in O’Brien eine dritte Person, der sie vertrauen. Der zweite Teil endet mit Winstons und Julias Verhaftung, veranlasst durch O’Brien, dessen vorgespielte Freundschaft eine Falle war; O’Brien gehört der Inneren Partei an. Der dritte Teil ist schnell erzählt: Winston wird bis zur Besinnungslosigkeit gequält und so lange einer Gehirnwäsche unterzogen, bis er den Grossen Bruder liebt und das Gefühl hat, in dieser Liebe seine Freiheit gefunden zu haben.

 

Die Frage, die sich der Leser stellt, ist diejenige, ob Orwells Dystopie mit unseren realen Lebensumständen und vorausschauenden Befürchtungen etwas zu tun habe. Ja, das hat sie, schonungslos. Zum Glück können wir davon aber den schlimmsten Teil ausnehmen: die Folter, deren Opfer Winston wird, hat sich – zumindest in unserem Kulturkreis – nicht in der geschilderten Art und Weise realisiert. Natürlich wird heute gefoltert: im Iran, in Nordkorea, in allen totalitären Staaten und auch in westlich liberalen (vergessen wir Guantanamo nicht!). Aber dass sich die Folter in der geschilderten Art und Weise gegen systemkritische Individuen nach innen richten würde, trifft bei uns nicht zu. Teil drei des Romans können wir streichen, wenn wir Parallelen suchen. Immerhin.

 

Die Teile eins und zwei aber sind voller Prophetie. Wie Orwell, der noch keine Digitalisierung kannte, die Totalüberwachung vorwegnehmen konnte, der wir heute ausgesetzt sind – durch allgegenwärtige Kameras, Tracking, Kreditkartenüberwachung, Handys mit offenem Mikrophon –, ist unerfindlich. Wir leben wie Winston Smith in Zeiten von Kriegen, die offenbar nicht aufhören dürfen. Wir beobachten eine permanente Geschichtsklitterung, weil unsere Medien nur diejenigen Teile der Wirklichkeit abbilden, die ihrer politischen Tendenz zupass kommen. Wir werden getrimmt, politische Gegner zu hassen. Wir leben in sprachlichen Wirklichkeiten, die Orwells Neusprech alle Ehre antun. Und wir leben in Zeiten des wirtschaftlichen Absturzes des Mittelstands, der für Orwells Roman konstituierend ist – während, hier wie dort, sich dünne elitäre Schichten wohlstandsmässig davon machen und ihre eigene Welt generieren.

 

Seit 1948 hat die Wirklichkeit so sehr zu den geschilderten Verhältnissen aufgeschlossen, dass ein schlimmer Verdacht im Raum steht: Wurde der Roman primär von Leserinnen und Lesern, von uns allen in der Rolle der Winston Smiths und Julias, als Warnung vor dem Totalitarismus gelesen – oder wurde er von den O’Briens dieser Welt als Handlungsanleitung aufgenommen, wie totalitäre Systeme zu gestalten seien, damit sie am effektivsten funktionieren? Ich fürchte, beides treffe zu. Big brother ist watching us.

 

 

 

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Seit 2020 können Sie in der „DMZ“ Woche für Woche die Kommentare von Dr. Reinhard Straumann verfolgen. Seine Themen reichen von Corona über amerikanische Außen- und schweizerische Innenpolitik bis hin zur Welt der Medien. Dabei geht Straumann stets über das hinaus, was in den kommerziellen Mainstream-Medien berichtet wird. Er liefert Hintergrundinformationen und bietet neue Einblicke, häufig mit Verweisen auf Literatur und Philosophie.

 

Dr. Reinhard Straumann ist Historiker und verfügt über das nötige Fachwissen. Als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich zudem jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen engagiert. Wir freuen uns, dass Reinhard Straumann regelmäßig zum Wochenende einen festen Platz in der DMZ unter dem Titel „Straumanns Fokus am Wochenende“ hat.

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