DMZ – POLITIK ¦ Dirk Specht ¦
KOMMENTAR
Die angebliche Renaissance der Kernenergie begrenzt sich faktisch auf einige Start-Ups, die an SMRs arbeiten sowie den diversen Forschungslinien zur Kernfusion. Vielleicht kann man das für eine seriöse, finanzierbare, versorgungssichere Energiepolitik irgendwann berücksichtigen. Für die nächsten Dekaden ist das auszuschließen. In Amerika gibt es kein einziges auch nur geplantes neues Kernkraftwerk. Dort ist mit den jüngeren Projekten, die jetzt schon erkennbare Investitionsruinen sind, Schluss. In Europa sind Amerikaner und Asiaten aus laufenden Projekten ausgestiegen. Das gilt auch für diverse „Pläne“, die bis zu ersten Voranfragen führten. Damit ist in Europa nur noch ein einziger Anbieter und Betreiber übrig geblieben, der neue Anlagen plant: Frankreich.
Kleine Ausnahme ist das noch offene Bieterverfahren in Tschechien, bei dem die französische EDF gerade versucht, auf dem Klageweg die südkoreanische KHNP aus dem Rennen zu werfen.
Daher lohnt es, in die Bilanz der französischen Kernenergie zu schauen, zumal eben diese für gewisse politische Kreise gar als Vorbild behauptet wird. Ich hatte das 2023 letztmals getan. Interessanterweise ist es insbesondere die konservative Wirtschaftspresse, die in Frankreich kein gutes Haar an der eigenen Energiepolitik lässt, während deren deutsche Pendants das zwar für das nationale Energiesystem gerne tut, bei der Bewertung der Kernenergie aber auffallend blind agiert. Dabei müssten die deutschen Wirtschaftsjournalisten nur die regelmäßigen Berichte von Le Monde lesen sowie die des französischen Rechnungshofs. Es ist wirklich interessant, dass in deutschen Medien und deren sogenannter sozialer Prägung jede auch noch so fragwürdige Quelle zu dieser Energietechnologie zitiert wird, die konkrete Bilanzprüfung der weltweit größten realen Projekte wird aber kaum erwähnt.
Gestern kam der aktuelle Bericht und der hat es in sich, denn der kommt zu keinem geringeren Ergebnis als zu folgenden glasklaren Empfehlungen:
– Aussetzung aller Investitionen in weitere Kernkraftwerke
– Sicherstellung der Finanzierung durch verbesserte Studien zu den tatsächlichen Kosten
– Internationale Projekte nur noch bei Sicherstellung eines quantifizierbaren Gewinns und Ausschluss von Projektverzögerungen
Le Monde zitiert daraus nur die Daten über das jüngste Projekt, Flamanville. Siebenfache Kosten seit 2006, Projektverzögerung 12 Jahre, selbst die Schätzungen von 2020 wurden noch mal um 4 Milliarden überzogen, was mehr ist, als ursprünglich das komplette Projekt kosten sollte. In einer gut aufgemachten Spezialseite wird die Genese der Projekts sehr gut illustriert.
Der Bericht selbst ist aber viel tiefer und der umfasst auch eine Abrechnung mit weiteren Projekten, auch denen im Ausland. Er trägt den Titel: „Neue Dynamik, bestehende Risiken“. Zur Einordnung: Gemeint ist eine Zunahme der Kostendynamik seit dem letzten Bericht 2023, während die ökonomischen Risiken seitdem nicht verbessert werden konnten. Das heißt: Es ist auf kritischem Niveau noch schlechter geworden, es ist keinerlei Trend ersichtlich, dass diese Abwärtsspirale gestoppt werden kann, im Gegenteil. Dabei stützt sich der Bericht auf die seit 2018 in Betrieb genommen sowie die im Bau befindlichen Projekte. Das sind also weder einzelne Problemprojekte und auch keine akademischen Studien, sondern die realen Daten aller Projekte der letzten 15 Jahre!
– In Betrieb gegangen sind in den letzten Jahren nur die Anlagen in Taishan (China) und das gerne als Vorzeigeprojekt bezeichnete in Finnland (Olkiluoto). Das in China musste nach der Inbetriebnahme 2019 wegen schwerer Mängel der Brennelementehüllen für ein Jahr vom Netz. Trotzdem lieferte der Reaktor auch nach erneuter Inbetriebnahme wenig Strom, die Gründe nennt der Bericht nicht. Probleme machen auch die von der chinesischen Provinzregierung abgenommenen Mengen und Preise. Der Bericht schließt daraus, dass die Investition von zu damaligen Wechselkursen ca. 2,5 Mrd einen „ungewissen“ Gegenwert hat. Klarer ist das im Fall Finnland, denn dieses Projekt führte für den französischen Bauherrn zur Insolvenz. Die Differenz zwischen den geplanten 1,6 Mrd gegenüber den knapp 10 Mrd tatsächlichen Baukosten musste Areva tragen, da man hier einen Festpreis geboten hatte. Für die Finnen also ein tolles Geschäft, für den französischen Steuerzahler nicht, der muss die Zweckgesellschaft, die Bad-Bank des realisierten Verlusts, über die kommenden Jahrzehnte abstottern.
– Für das jüngste in Betrieb genommene, Flamanville findet sich der Befund einer „schlechten Rentabilität“. So wird der vom Betreiber und der Politik noch 2019 bezifferte Stromgestehungspreis von 6 Cent pro KWh, der bis heute in vielen Medienberichten behauptet wird, auf knapp 10 Cent korrigiert – und zwar nach der Methodik des Betreibers selbst! Der Bericht macht dabei klar, dass auch dieser korrigierte Wert sehr unsicher ist, staatliche Subventionen umfasst, deren Genehmigung seitens der EU noch offen ist und idealtypische Betriebsbedingungen über Jahrzehnte bezüglich Ausfällen, Beschaffungs- und Betriebskosten unterstellt, die unwahrscheinlich sind. Nicht enthalten sind wie immer Versicherungs- und Entsorgungskosten sowie Rückbau der Anlagen. Leider konnte der Bericht nicht aufschlüsseln, wie hoch der Subventionsanteil dieser geschönten Stromgestehungskosten ist und er versucht auch keine eigene Prognose. Er kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass bereits diese Kosten am Strommarkt nicht zu erzielen sind, das Projekt also trotz der bereits zugesagten Subventionen weitere Defizite erzeugen wird, bei einer Planung, die mögliche Betriebsrisiken unzureichend abbildet – und nein, das sind keine Unfallrisiken, hier geht es alleine um ökonomische Risiken.
– Komplex ist die Bewertung der im Bau befindlichen UK-Projekte. Bei Hinkley Point moniert der Bericht, dass die mehrfach korrigierte Kostenschätzung von 2019 über ca. 22 Mrd in kurzer Zeit auf einen Korridor von 31-34 Mrd erneut angehoben wurde. Der größte Schaden wird vermutlich vom Stromkunden in UK getragen, da die Regierung Johnson einen jährlich steigenden Garantiepreis abgesichert hat. Der wird je nach Inflation über 17 Cent pro KWh liegen, weiter steigend. Das reicht aber immer noch nicht, um Frankreich vor einem Verlust zu bewahren. Der Rechnungshof kann hier nur mit groben Annahmen rechnen, vermutet aber bis zu 5 Milliarden Verluste, die letztlich in der französischen Staatskasse landen. Bei Sizewell vermutet der Bericht, dass wegen Zuschüssen der britischen Regierung auf Frankreich lediglich Abschreibungen von 0,1 bis 0,5 Mrd zukommen werden.
Nun ist das nur der Rechnungshof, nicht die Regierung. Wenn die sich daran hielte, wäre die Planung neuer Kernkraftwerke in Europa für die nähere Zukunft tot. Für Frankreich selbst ist derzeit ein konkreter Beschluss für vier neue Anlagen auf dem Tisch. Deren Planung läuft, der Rechnungshof belegt sehr klar, dass deren Finanzplan nicht haltbar ist. Er fordert sogar, diese bereits beschlossenen Pläne zu stoppen. Das wird die Regierung kaum tun, es wird auch sehr schwierig, das angesichts der hohen Quote bestehender und teilweise schon über ihre Lebenserwartung laufenden Anlagen zu unterlassen. Daher ist damit zu rechnen, dass Frankreich gar nichts anders tun kann, als zumindest diese vier Anlagen, ggf. auch weitere tatsächlich zu bauen. Das wird aber nicht reichen, die bereits ab ca. fünf bis zehn Jahren beginnenden nicht mehr vermeidbaren Stilllegungen der ältesten Anlagen zu kompensieren.
Das französische Energiesystem ist kein Vorbild, sondern sowohl ökonomisch als auch bezüglich der Versorgungssicherheit ein Risikoprojekt. Aufgrund der Haushaltslage in Frankreich ist es sehr wahrscheinlich, dass die sich daher zusätzliche Auslandsprojekte nicht leisten werden. Man darf vermuten, dass die französischen Anbieter daher bei den vielen rein politisch motivierten und medial komplett überzeichneten Ausbauplänen im sonstigen Europa wie zuletzt die Amerikaner und Asiaten staatliche Garantien verlangen werden, um die ökonomischen Risiken auf die jeweiligen Länder abzuwälzen. Das wird keine Regierung mit Restverstand machen. Hoffentlich auch keine in Deutschland.
Das politische Gerede über neue Kernkraftwerke für die konkrete Energieversorgung in den nächsten beiden Dekaden ist vollständig unseriös. Wenn man es genau liest, ist die Kernbotschaft des französischen Rechnungshofs keine andere.
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