DMZ – POLITIK ¦ Dirk Specht ¦
KOMMENTAR
Deutschland exportiert seinen Strom billig und importiert teuer. Das ist ein ganz schlechtes Geschäft, wir zahlen Milliarden für ausländischen Strom, um unsere Versorgung sicher zu stellen. Solche Bewertungen liest man täglich in Medien und hört sie auch von namhaften Ökonomen. Vermutlich ist dieses Narrativ für die Mehrheit der Bevölkerung stimmig.
Aber stimmt es auch?
Leicht nachweisbar ist der Teil mit der Importabhängigkeit und der Knappheit an Kraftwerksleistungen falsch. Hier stimmt sogar das Gegenteil, denn insbesondere Deutschland betreibt nach wie vor eine besonders große Kapazität an vergleichsweise schnell regelbaren Mittellast- und sehr agil regelbaren Spitzenlastkraftwerken. Diese Reserven sind also bei uns außergewöhnlich hoch und resilienter als bei allen Nachbarn, auch im Vergleich zu Frankreich mit dem exorbitant hohen Anteil an Grundlastkraftwerken. Diese Rolle Deutschlands ist 2022 besonders deutlich geworden, als nur mit unseren Reserven der gigantische Ausfall in Frankreich kompensierbar war.
Schwieriger wird das mit den Preisen und der Handelsbilanz. Diese ist bekanntlich 2024 erstmals negativ geworden und gemessen an dem Gesamtverbrauch (inkl. Eigenverbrauch) haben wir netto ca. 5% der Strommenge importiert. Wenn man auf diese geringe Quote hinweist, kommt als Belehrung sehr oft, die Bilanz sei irrelevant, weil bei „Dunkelflauten“ unsere Versorgung nur dadurch funktioniere (was wie gesagt nicht stimmt) und da die Preise so extrem ungünstig seien. Bei diesem Preisargument hilft es meist auch nicht, darauf hinzuweisen, dass grenzüberschreitender Handel schlicht den Wettbewerb um die besseren Preise bringt und allenfalls inländische Erzeuger diesen Wettbewerb nachteilig finden können, man dem aber marktwirtschaftlich nicht folgen sollte. Ebenso hilft es nicht, die geringe Importquote als Indikator für die ökonomische Irrelevanz zu nennen.
Das Eingangsstatement wird schlicht wiederholt. Bild et al. haben es quasi als Wissens-Impfung so oft wiederholt, dass die so geimpften immun gegen plausible Überlegungen sind. Daher muss man mal wieder gegen diese Desinformation viel Mühe aufwenden, denn die Behauptung zu den Preisen basiert auf falschen Schätzwerten, die Preisbildung im EU-Stromhandel wird von fast allen Quellen gar nicht berücksichtigt, sie dürfte denen, die darüber so viel reden, sogar unbekannt sein. Eine oft zitierte Quelle ist das Portal stromdaten.info, das diese Preise und Bilanzen anhand der inländischen Strombörsenpreise selbst berechnet. Das Portal behauptet wie sehr viele Quellen die Daten der Netzagentur (SMARD), der Strombörse oder von ENTSO-E zu publizieren. Das ist falsch, denn die besagten Institutionen veröffentlichen keine EU-Handelspreise oder Bilanzen. Das sind also eigene Berechnungen, indem die jeweils von ENTSO-E ex/importierte Strommenge mit dem zu diesem Zeitpunkt von der deutschen Strombörse publizierten Preis multipliziert wird.
Das ist falsch. Wie viele andere ist offensichtlich die Preisbildung im EU-Stromhandel den wenigsten bekannt. Jetzt wird es technisch: Dieser erfolgt nach dem „Price Coupling of Regions (PCR)“ in verschiedenen Preiszonen mit einem Algorithmus, der das im Kontext wunderbare Kürzel EUPHEMIA (EU + Pan-european Hybrid Electricity Market Integration Algorithm) trägt. Was macht dieser Algorithmus: Er sammelt alle Angebote von Strom inklusive der Leitungskapazitäten sowie alle Kaufgebote, um daraus einen Preis zu ermitteln, der eine maximale Handelsmenge erzeugt. Vereinfacht ausgedrückt wird dadurch ein Preis gebildet, der unter Berücksichtigung der angebotenen Mengen, der dafür verfügbaren Leitungen und der nachgefragten Mengen möglichst viel Strommenge zusammenbringt. So funktionieren übrigens auch die meisten Auktionen im Aktienhandel.
Was heißt das nun? Der EU-Stromhandel wird NICHT nach nationalen Börsenpreisen abgerechnet, der erfolgt in einem komplett eigenen Handelssystem und das erzeugt: Einheitspreise! Für alle!
Es ist daher bereits sehr unwahrscheinlich, dass in dem Handel für einzelne Parteien besonders ungünstige Bilanzen entstehen und größere Asymmetrien überhaupt möglich sind. Im Gegenteil ist das sogar besonders ökonomisch für alle Parteien, Anbieter, wie Nachfragen gestaltet. Es wird eine optimale Balance für alle Interessen gerechnet, in Chart1 sind diese vielen Vorteile als „surplus“ in den Flächen markiert. Das ist übrigens ausnahmsweise mal eine basale VWL-Theorie, die auch real ganz gut funktioniert.
Leider werden diese EU-Handelspreise aber nicht veröffentlicht und insofern wird trotz dieser 5%, trotz dieses Preis-Mechanismus die Bild-Impfung immer noch wirken. Stromdaten.info rechnet das ja vor, das sagt doch alles, Theorie hin oder her?
Nun, man kann mangels Daten nur mit Schätzwerten operieren und es wäre zunächst mal angemessen, wenn jeder das dazu sagt. Kommen wir zu stromdaten.info und der Nutzung nationaler Börsenpreise. Die Gebote in EUPHEMIA ergeben sich aus den Preisen ALLER nationalen Börsen zum jeweiligen Handelszeitpunkt. Niemand wird in EUPHEMIA billiger verkaufen als an seiner nationalen Börse, niemand wird dort teurer einkaufen. Da das ein komplexes Gesamtbild ist, kann man nur Tendenzen vermuten. So ist es naheliegend, dass Produzenten mit national niedrigen Preisen versuchen in EUPHEMIA etwas bessere Konditionen zu erzielen und sofern die den Zuschlag bekommen – also ein Export messbar wird – mag der EU-Preis nahe am, aber gewiss über dem nationalen Börsenpreis liegen. Die so gerechnete Schätzung der Exportpreise kann also einigermaßen sinnvoll sein, nicht mehr, nicht weniger. Bei den Importpreisen ist das keineswegs der Fall, denn aus derselben Plausibilität wird der von den jeweils anderen Exporteuren dominiert. Stromdaten.info wird also die Exportpreise etwas unterschätzen, die Importpreise massiv überschätzen. Wenn man also Minutenpreise mit nationalen Börsenpreisen schätzen möchte, so müsste man den jeweils größten Exporteur als Preissetzer vermuten, keinesfalls den Importeur. Es ist daher offensichtlich, dass stromdaten.info die Handelsbilanz und die Handelspreise erheblich schlechter darstellt, als sie sind.
Andere Quellen, so das Statistische Bundesamt, nutzen daher als Schätzwerte die jeweiligen nationalen Großhandelspreise, also die Durchschnittspreise der Handelspartner. Man geht also davon aus, dass zu diesen Preisen exportiert wird. Das ist wegen der Durchschnittsbildung über längere Preisphasen – DESTATIS nimmt sogar die Jahresdaten – eine sehr grobe Schätzung, die aber logisch viel plausibler als die von stromdaten.info ist, denn sie geht zutreffender davon aus, dass die jeweiligen Exporteure die Preise dominieren. Es gibt ältere wissenschaftliche Studien, die das anhand von kurzfristigeren Großhandelspreisen so machen. Das ist m.E. die methodisch beste Vorgehensweise, aber ich habe keine aktuellere Studie dazu gefunden. Der Grund nebenbei: Es ist jedem Experten schlicht klar, dass das zu irrelevanten Ergebnissen führt und leider wird keiner dafür bezahlt, mit großer Mühe Desinformation von Bild et al. zu widerlegen.
Versucht man das für das Jahr 2024 mal zusammenzufassen, so gibt es anhand der falschen nationalen Börsenpreise Quellen, die von 2 Milliarden Defizit ausgehen, das ist die Aussage von stromdaten.info, mit der Bild et al. hausieren. Interessant ist, dass stromdaten.info selbst (Chart2) erstmals zu einer gegenteiligen Preisaussage kommt, nämlich einem Exportpreis von 78,5 gegenüber einem Importpreis von 72,1. Demnach hätte Deutschland zwar wegen der Importmenge eine negative Handelsbilanz von 2 Milliarden, aber zu besseren Preisen exportiert als importiert. Das hatte Bild bei der eigenen Quelle wohl „übersehen“. Andere Quellen kommen auf die Hälfte der Summe, es darf also leider weiter spekuliert werden, was uns diese 5% Importmenge an Geld „gekostet“ haben.
Die Symmetrie der Großhandelspreise und das interessante Ergebnis von stromdaten.info, das wie gesagt die Bilanz deutlich zu schlecht ausweist, lässt sogar den Schluss zu, dass die Geldbilanz nicht mal negativ war. Aber selbst, wenn es diese zwei Milliarden gewesen wären, zu denen wir netto einkauften, so hätten wir einen mittleren Preis von 8 Cent für diesen Import bezahlt. Insofern sagt selbst diese Quelle, dass der Einkauf ökonomisch sehr günstig war und dass die Gesamtsumme sogar noch unter den 5% Mengenquote liegt. In Geld gemessen, haben wir demnach nicht mal für 3% importiert.
Diese Daten sind wie gesagt sogar zu hoch ausgewiesen. Es ist sogar denkbar, dass wir tatsächlich vom EU-Strommarkt Geld für einen Netto-Import bekommen haben. Aber auch das ist wie die ganze Rechnerei: Irrelevant.
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