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Die Bilanzen von Milei sind noch gar nicht lesbar und ein „freier Markt“ ist da gar nicht in Sicht

DMZ –  POLITIK ¦ Dirk Specht ¦    

KOMMENTAR

 

Argentinien war und ist immer noch ein durch eine spezielle sozialistische Politik (Peronismus), komplett herunter gewirtschaftetes Land. Die Probleme sind vielschichtig, sie reichen von Korruption über einen massiv aufgeblähten Staatssektor bis zur hoffnungslosen Überregulierung. Mehre Staatspleiten und chronisch notwendige Einsätze des IWF sind die Folgen. Nichts davon hat etwas mit der Situation europäischer Staaten zu tun – schlicht gar nichts!

 

Nun wird bekanntlich der neue Präsident Milei als „Mann des Markts“ gefeiert, dessen Methoden man angeblich für Europa nutzen könne. Die wenigsten wissen aber, in welcher Lage das Land ist und was dort konkret passiert. Milei geht tatsächlich disruptiv gegen den Staatssektor vor und er kürzt nicht weniger disruptiv den Haushalt. Das erzeugt Licht und Schatten. So werden ganz sicher desolate Strukturen möglichst schnell zerstört, diese Maßnahmen werden vieles richtig machen. Was aber auch leidet, sind der Bildungssektor sowie die Investitionen in staatliche Infrastrukturen. Was alleine diese Kürzungen und Strukturmaßnamen für Gesamtfolgen haben werden, ist gar nicht absehbar – und das meine ich positiv wie negativ.

 

Weshalb ihm unterstellt wird, er entfessle „den Markt“ ist keineswegs nachvollziehbar, denn bisher weiß „der Markt“ noch gar nicht, was ihm geschieht. Das kann man Milei übrigens nicht anlasten, so ein radikaler Weg muss zunächst vor allem Irritationen und Stillstände erzeugen. Das war auch angekündigt, was aber erneut bedeutet: Es ist nicht absehbar, daher aber auch kein Grund, die Sache zu feiern. Momentan ist eine tiefe Rezession erkennbar, vor allem die Handelsbilanz wird verzerrt und hier deutet sich ein großes Risiko an, dazu unten mehr.

Irgendwas tolles von „Markt“ findet derzeit also gar nicht statt, das sind merkwürdige Zustimmungen. Gefeiert wird Milei aber zudem für den Rückgang der Inflation und die „Sanierung“ des Haushalts, der tatsächlich keine Neuverschuldung mehr vorsieht. Die meisten besser begründeten positiven Kommentare stützen sich auf diese ersten Ergebnisse. Das halte ich für weitgehend verfrüht und möchte auf den Kern der ganzen Idee hinweisen, der kaum verstanden, aber über die wahren Folgen des Kurses ganz wesentlich entscheiden wird.

 

Milei will nämlich die Dollarisierung nutzen, also die eigene Währung abschaffen und den Dollar einführen. Das ist in Argentinien nicht neu, denn es gab dort schon mehrfach den Wechsel von extrem linker auf extrem rechte Politik, was tatsächlich – ein kleiner Hinweis auf die Freude, das für Europa zu nutzen – aber auch jedesmal in einer Staatspleite endete. Die Dollarisierung hatte dort bereits Menem vor 23 Jahren vorgenommen, schnelle Erfolge erzielt, vor allem die Hyperinflation war – natürlich! – sofort weg. Nachdem das alles trotzdem mit der nächsten Staatspleite krachend scheiterte, führte man den Peso wieder ein und schaffte mit der Wiederholung sozialistischer Staatspolitik wieder den Umschwung auf die andere Variante in eine weitere Staatspleite.

 

Milei geht nun etwas anders vor, wobei man dazu sagen muss, dass der IWF knapp 50 Milliarden zugeschossen hat und ein wenig auf den Büchern sitzt. Wer da also welche Maßnahmen beschließt, ist nicht ganz klar, denn Milei kann ohne den IWF nicht einen Monat überleben. Das sei als Unterschied zu Deutschland ebenfalls erwähnt. Die Variante der Dollarisierung lautet dieses Mal: Kapitalverkehrskontrollen für einen schrittweisen Übergang. Der Peso bleibt also zuerst mal erhalten, bis die Reformen greifen und dann erst soll der Dollar eingeführt werden. Das sollte übrigens schneller erfolgen, es war von drei bis sechs Monaten die Rede, aber es sieht nicht danach aus, dass die Restriktionen so schnell fallen können. Libertär oder „freier Markt“ ist daran nebenbei genau gar nichts.

 

Ob das ganze ein kluger Weg oder ein scheiternder Trick ist, muss sich zeigen, aber genau hier liegt vermutlich das „Endgame“, welches über schlicht alles entscheidet: Über die Kapitalverkehrskontrollen bestimmt Milei den Wechselkurs zum Dollar. Hier wertet er den Peso stark ab, das Chart anbei ist wie bei Währungen oft anders herum zu lesen. Deshalb profitiert beispielsweise der Export, der – eine Subvention der Kapitalverkehrskontrollen bzw. des Währungssystems – zum festgelegten Kurs abrechnen darf. Importe werden hingegen in Peso immer teurer. In der Folge weitet sich die Handelsbilanz aus, die Leistungswerte dahinter sehen aber nicht so aus. Das Land verarmt tatsächlich, es kann immer weniger ein- und verkaufen, ein weiterer Grund für die Rezession, neben dem fehlenden Staatssektor am Markt und wenn es ganz dumm läuft, ein Grund für den Anstieg der Armutsrate. Dann ist das nämlich kein vorübergehender Effekt der nationalen Wertschöpfung, sondern ein Abstieg in der internationalen!

 

Das heikle an der Sache: Die ganzen Bilanzen, für die Milei gefeiert wird, haben gar keine Aussagekraft mehr. Weder der Haushalt, noch die Inflationsdaten, die Handelsbilanz und auch das BIP sind substanzielle Zahlenwerke. Die werden alle in diesem amtlich festgelegten Peso gerechnet und das ist inzwischen ein rein virtueller Wert. Wie diese Bilanzen in Dollar aussehen werden, also in einer realen Währung gerechnet, lässt sich gar nicht sagen. Erst dann nämlich werden für „den Markt“ überhaupt korrekte Bücher geführt. Erst dann werden internationaler und nationaler Handel, Staatsausgaben und Einnahmen sowie Schulden und ganz besonders die Inflation so berechnet, dass man daraus eine reale Bewertung ableiten kann. Das derzeit einzige zumindest auf dem Papier funktionierende Stützungsinstrument, nämlich eine abwertende Währung, soll Argentinien mit der Dollarisierung zudem verlieren.

 

Wenn alles gut geht, werden die Bilanzen bei Soll und Haben, bei Einnahmen und Ausgaben mit den aktuellen Relationen in einer korrekten Dollarbewertung stehen. Wenn das nicht klappt, wird es leider genauso ausgehen, wie bei der DDR, die bekanntlich ebenfalls über Kapitalverkehrskontrollen den Wechselkurs zur DM festlegte und ganz tolle Staatsbilanzen vorlegte. Sobald es aber darum ging, mit dieser Währung etwas im Ausland einzukaufen oder etwas selbst produziertes im Ausland abzusetzen, war dieser Währungskurs reine Luft. Beim Peso sehen wie strukturell denselben Effekt, nur umgekehrt. Während die DDR ihre Währung künstlich überhöhte, ist der Peso künstlich unterbewertet. Ein radikales Instrument für sich, man will quasi aus der Flasche, die man abgibt, zuerst mal einen ordentlichen Schluck nehmen.

 

Vermutlich wird das aber so schnell gar nicht gehen, denn diese immer größere Schere zwischen dem Wert, in dem man die Bücher führt und dem wahren Wert, lässt die Dollarisierung wohl gar nicht zu. Eine Fortsetzung dieser Kapitalverkehrskontrollen kann aber nicht zu einer Genesung der Volkswirtschaft führen.

 

Ein schwieriges „Endgame“, das, je länger es läuft, desto weniger kontrollierbar ist. Momentan sagen die Daten, dass da von einer radikalen Marktsanierung bis zu einer DDR-Mogelpackung alles passieren kann. So ist das bei sehr radikalen Experimenten. Vielleicht war Argentinien in einer Lage, die das alternativlos erforderte. Vielleicht wird es gelingen. Vielleicht ist es eine Zerstörung, die untergeht, aus deren Untergang aber wenigstens ein fruchtbarer Acker entsteht. Vielleicht ist nur der nächste radikale Irrtum auf der anderen Seite, der schlimmstenfalls den Boden für die nächste linke Radikalität bereitet.

 

Darüber haben die Argentinier zu entscheiden. Für Europa und Deutschland ist daraus nur abzuleiten, dass niemand ohne höchste Not so ein Experiment machen sollte. Übrigens auch nicht „ein wenig“. Wir brauchen Reformen, keine Disruptionen und wer die Entbürokratisierung in dieser Form feiert, sollte diese unfassbar riskante Buchführung mit Kapitalverkehrskontrollen und luftbasierten Wechselkursen nicht übersehen. Die sind nämlich viel wichtiger als die Frage, ob ein paar überbezahlte Beamte vom Gehaltszettel verschwinden, denn so etwas wie ein „freier Markt“ ist da längst nicht in Sicht – das ist viel mehr Staatswirtschaft, als unsere Ökonomieexperten erkennen!


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