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Reminder: Pandemieaufarbeitung darf nicht für Pandemierevisionismus missbraucht werden

Screenshot X(Twitter)
Screenshot X(Twitter)

DMZ – BILDUNG ¦ Stefan Hemler ¦   Screenshot X(Twitter)

KOMMENTAR

 

Anmerkungen zur kontroversen Twitter-Debatte über die jüngsten Diskussionsanstöße von Oliver Dierssen

 

Eine Pandemieaufarbeitung kann nur gelingen, wenn sie nicht zum Pandemierevisionismus missbraucht wird - dies hat in den letzten Tagen eine von dem Psychiater Dr. Oliver Dierssen angestoßene Debatte auf X gezeigt. Dierssen hatte in einem vielbeachteten Thread auf X am 22. November dafür plädiert, im Rahmen der Pandemieaufarbeitung sich wieder mehr um einen gesellschaftlichen Dialog zu bemühen.

 

Es solle dabei versucht werden, riet Dierssen, der jeweilig anderen Seite wieder offener und empathischer zu begegnen: „Ich habe diesen Thread geschrieben, damit sich Menschen zu einem Kurswechsel eingeladen fühlen. Wer möchte, kann mich natürlich wieder gern beschimpfen, insbesondere da ich ja dargelegt habe, dass ich die Not hinter den Beschimpfungen durchaus spüre und meine unfreundlichen Antworten meist bereue. Ich würde es aber besser finden, wenn hier ein echter Austausch gelingt und Menschen der unterschiedlichen Lager sich gegenseitig zuhören.“ (https://threadreaderapp.com/thread/1860092379459408151.html)

 

Vier Tage später hat Oliver Dierssen diesen Diskussionsprozess allerdings selbst wieder beendet. Inzwischen ist sogar sein Twitter-Account, der über 30.000 Follower verfügte, gelöscht.

 

Oliver Dierssen „als Mittler nicht so gut geeignet“?

Vor der Accountlöschung schrieb er am 26.11. kurz nach Mitternacht noch auf X als Begründung für seinen Ausstieg aus der Debatte, dass er als „Mittler in Fragen der Pandemie-Aufarbeitung (die dringend nötig ist) (..) scheinbar nicht so gut geeignet“ sei. Aus meiner Sicht war sein Diskussionsversuch ein interessantes Experiment, das aber letztlich als missglückt betrachtet werden muss. Es lohnt sich aber, über die Gründe des Scheiterns nachzudenken.

 

Obwohl ich Dierssens Anliegen grundsätzlich sehr ehrenwert fand, hatte ich Bedenken, ob dafür derzeit schon der richtige Zeitpunkt ist. Denn m.E. fehlt aktuell die Grundlage für eine gelingende gesellschaftliche Pandemieaufarbeitung.

 

Diese Basis muss in einer validen wissenschaftlichen Evaluation des Pandemiemanagements liegen, wie es u.a. Isabella Eckerle oder Christian Drosten fordern. Die Ergebnisse einer solchen Evaluation sollten nicht nur von einem Fachpublikum, sondern auch von der Öffentlichkeit mitdiskutiert werden. Denn wir brauchen für eine nachhaltige Pandemieaufarbeitung eine gesicherte Faktenbasis, über die dann dauerhaft auch ein breiter gesellschaftlicher Konsens besteht.

 

„Plandemie“ und „Moralpanik“: pandemierevisionistische Narrative aus der „Kindertruppe“

Die viertägige kontroverse, z.T. in anklagendem Ton geführte Debatte auf X um den Thread von Oliver Dierssen hat nun vor Augen geführt, wie der Versuch eines pandemieaufarbeitenden gesellschaftlichen Dialogs ohne eine solche Faktenbasis allzu leicht in die Irre führen kann. So wurden etwa in der Debatte auf X mit Dierssen grundlegende, von der WHO dokumentierte Fakten über den Verlauf der Pandemie abgestritten. Stattdessen war von einer durch eine "Plandemie" ausgelöste "Moralpanik" die Rede – hingegen nicht von der wohl seit der spanischen Grippe weltweit größten Public Health-Krise, die wir nach Meinung renommierter Fachleute durchlebt haben.

 

So twitterte etwa der Account „Prof. Freedom“ als Kommentar zu Dierssen: „Im Endeffekt war ja Corona nichts anderes als Pandemien wie Asia Flu Ende der 50er oder Hongkong Grippe Ende der 60er. Damals gab es jedoch keine sich aufschaukelnde Moralpanik in sozialen Medien und auch hatte Big Pharma noch nicht so viel Impact.“ (https://x.com/prof_freedom/status/1860321499258732637?t=ry3foN2MUPYFEtlBiWm5Yw&s=19)

 

Ähnliche Versuche eines pandemiehistorischen Revisionismus, wie sie hier ein anonymer, aber mit seinen 75.000 Follower:innen durchaus einflussreicher großer Account der „Maßnahmenkritiker“-Bubble äußert, sind in sogenannten „Kindertruppe“ auf X weiterhin en vogue. Unter dem Hashtag #Kindertruppe haben sich vor allem Unterstützer:innen der „Initiative Familien e.V.“ zusammengefunden, die neben der Kleinpartei „Lobbyisten für Kinder“ 2021 aus dem coronaverharmlosenden Netzwerk „Familien in der Krise“ hervorgegangen ist (https://uebermedien.de/57363/wer-und-was-steckt-hinter-der-initiative-familien-in-der-krise/). Zum befreundeten Support der „Kindertruppe“ im weiteren Sinne haben in den Pandemiejahren aber auch andere laute Stimmen der Maßnahmenkritik gehört, so etwa der pensionierte WHO-Epidemiologe Klaus Stöhr und der Hamburger Arbovirologe Jonas Schmidt-Chanasit mit ihrer Arbeitsgruppe „Corona-Strategie“ (https://covid-strategie.de/arbeitsgruppe-pandemiebekampfung/). Auch einige Journalist:innen , z.B. aus dem Springer-Flaggschiff „Welt“, unterstützen regelmäßig die Verbreitung der Narrative des Pandemierevisionismus (https://www.volksverpetzer.de/aktuelles/querdenken-netzwerk-welt/). Doch wie die letzten Tage auf X gezeigt haben, entziehen solche Ansichten dem von Dierssen angestrebten aussöhnenden Pandemieaufarbeitungsdialog letztlich den Boden.

 

Gemeinsame Faktenbasis als unverzichtbares Fundament eines Aussöhnungsprozesses

Denn solange auf Basis gemeinsam geteilter Fakten nicht klar ist, was wir im Groben überhaupt damit meinen, wenn wir über "die Pandemie" sprechen, können wir auch nur schwer zu aussöhnenden gegenseitigen Verstehensprozessen über die erlebten Folgen der Pandemie in der Gesellschaft kommen, wie sie Dierssen vorgeschlagen hat.Wir sollten bei der Pandemieaufarbeitung besser also nicht den zweiten vor dem ersten Schritt versuchen. Es wäre deshalb wünschenswert, wenn 2025 nun auch in Deutschland wie auch auf internationaler Ebene - am besten initiiert durch die WHO - eine gründliche wissenschaftliche Evaluierung der Pandemiemaßnahmen erfolgt.

 

Im Rahmen dieser Evaluierung sind auch forschungsmethodische Fragen offen und kritisch zu diskutieren. Denn immer wieder hat es sich gezeigt, dass klare Studienergebnisse alleine in der veränderten Logik der Pandemiedebatten oft nicht mehr ausreichen, weil Maßnahmengegner inzwischen systematisch versuchen, mit methodischen Zweifeln auch schlagkräftige Nachweise in Frage zu stellen. Diese Problematik hat beispielhaft zum Thema der Masken eine Forscher:innengruppe um die Oxforder Public Health-Expertin Trish Greenhalgh in einem großen Review Paper disktutiert, das im Mai veröffentlicht wurde: https://journals.asm.org/doi/10.1128/cmr.00124-23 

 

Schaffen wir doch noch einen pandemischen Lernprozess, aus dem unsere Gesellschaft gestärkt hervorgeht?

Auf dieser Basis können dann weitere Versuche einer politisch-gesellschaftlichen Pandemieaufarbeitung unternommen werden. Dabei geht es nicht allein um den von Dierssen angeregten innergesellschaftlichen Versöhnungsdialog, sondern ebenso um eine Aufarbeitung der Rolle wesentlicher gesellschaftlicher Instanzen während der Pandemie, so insbesondere auch der von Politik und Medien. Auf einem guten wissenschaftlichen Fundament würde so ein breiter Aufarbeitungsprozess angestoßen werden, der nach dem Aufwachen aus der pandemischen Trauma-Starre der jüngsten Zeit uns doch noch in einen offener und ehrlicher Klärungs-, Versöhnungs- und Lernprozess führte. So könnte unsere Gesellschaft letztlich doch noch am Ende gestärkt aus der schweren Gesundheitskrise hervorgehen, die die Corona-Pandemie weltweit bedeutet hat.

 

Wer jedoch, wie die „Kindertruppe“ und ihr notorisch „maßnahmenkritisches“ Unterstützungsnetzwerk, die reale Existenz einer solchen Public Health-Krise weitgehend abstreitet und mehr oder weniger stur an einer Agenda des Pandemierevisionismus festhält, kann zu einem solchen dringend nötigen Aufarbeitungsprozess ganz offensichtlich keinen konstruktiven Beitrag leisten – das gehört zur Wahrheit der Pandemieaufarbeitung ehrlicherweise auch dazu.


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