Reminder: Der Umgang mit kognitiven Verzerrungen in einer SocialMedia-Öffentlichkeit wird schwierig!

DMZ –  POLITIK ¦ Dirk Specht ¦              

KOMMENTAR

 

Viele Aspekte auch von Wahlentscheidungen hat Daniel Kahneman bereits Ende der 70er erforscht und sehr präzise beschrieben. Als ursprünglich ordoliberal geprägter Ökonom finde ich in der von Kahneman beeinflussten Verhaltensökonomie neben der Spieltheorie viel bessere Erklärungen für unsere komplexen Handlungsmuster als in den alten Holzschnitzmodellen, die uns von Sinn et al. in unseren Medien weiter erzählt werden und die – viel schlimmer – auch noch Applaus erhalten. Auch das Wahlergebnis vom letzten Sonntag könnte Kahneman besser erklären, als viele Analysen es derzeit tun, die doch nur in alten rechts/links-Mustern mit politischen Farbmustern mal hier, mal dort Ursachen, Verantwortung oder „Schuld“ verorten. Genauso wenig zielführend ist es, den jeweiligen Entscheidungen anderer Wähler so etwas zuzuordnen.

 

Kahneman, den ich hier nur – zurecht! – repräsentativ für eine ganze Wissenschaftsrichtung nenne, hat insbesondere sogenannte „kognitive Verzerrungen“ analysiert, ein Konzept, das beschreibt, welche Denk- und Handlungsmuster uns (alle!) beherrschen, die das Bild des logisch, rational agierenden Menschen vorsichtig formuliert „justieren“, die damit auch die alleinige Wirkung des Homo oeconomicus widerlegen bzw. in der Wissenschaft freundlicher formuliert „ergänzen“. Zwei Bücher von Kahneman anbei seien empfohlen. In einem beschreibt er leichter verständlich das Konzept der kognitiven Verzerrungen, in einem zweiten, älteren Fachbuch, von dem ich optimistisch hoffe, die Hälfte verstanden zu haben, untersuchen er und seine Co-Autoren die Frage menschlichen Wohlbefindens. Das sind nur einige von vielen Grundlagenwerken, beispielsweise der Verhaltensökonom Ernst Fehr sei sehr empfohlen, ebenfalls primär mit tieferer Fachliteratur präsent, aber zur „Glücksforschung“ beispielsweise mit einem nicht so fachlichen Werk, das man sogar komplett verstehen kann :-).

 

Es ist nachvollziehbar, dass solche eindrucksvollen Denker keine Zeit finden, in unseren Medien populäre Aufklärungsarbeit zu leisten. Fehr selbst sagte mal, auf seine vergleichsweise geringe Medienpräsenz angesprochen, es gebe Ökonomen, die in den Medien erfolgreich sind und solche, die es in der Wissenschaft sind. Fehr und Kahneman – leider ohnehin kürzlich verstorben – beim Lanz, das wäre für die Zeitverschwendung. Aber leider ist die Brücke dahin verloren gegangen, denn beispielsweise ein besser aufgestellter Journalismus könnte mal versuchen, deren Erkenntnisse für eine breitere Öffentlichkeit aufzubereiten – dann wäre der Verzicht auf Sinn et al. nicht nur leicht möglich, sondern auch sehr schnell als evident erkennbar.

 

Ich will nur einige Ergebnisse von Kahneman hier fachlich sehr verkürzt aufgreifen, die uns in der aktuellen Agenda politischer Entwicklungen besondere Schwierigkeiten machen. So neigen wir dazu, drohenden Verlusten eine viel größere Bedeutung zu geben, als möglichen Gewinnen. Es gibt sehr gute Experimente, in denen Personen dem drohenden Verlust von ein paar Cent viel mehr Aufmerksamkeit widmen, als einem möglichen Gewinn des Vielfachen. Dazu passt gewissermaßen, dass wir uns sehr schnell unglücklich fühlen, wenn sich unsere Lebenssituation verschlechtert. Das gilt nachweislich auch dann, wenn die nach objektiven Kriterien unstrittig sehr gut aussieht. Übertrieben formuliert: Selbst der Milliardär kann unglücklich werden, wenn er ein paar Millionen verliert. Daher gilt auch die Angst vor einer Verschlechterung als sehr wirkungsstark, das hat den Begriff der Abstiegsangst geprägt. Eine weitere kognitive Verzerrung ist die größere Bedeutung von Entscheidungen mit kurzfristiger Wirkungsweise gegenüber denen mit langer Frist. Um das Bild von eben zu wiederholen: Wir bücken uns lieber tief für ein paar Cent vor unseren Füßen als uns für den Dollar einzusetzen, den wir am Ende eines längeren Wegs erwarten können.

 

Wenn dann gar der Cent vor den Füßen einen Verlust vermeidet und der weit entfernte Dollar nur einen wagen Gewinn verspricht, verstehen wir sehr gut, warum viele sich so schwer tun, für den Erhalt unserer ökologischen Lebensgrundlage heute irgendwelche – oft nur gefühlten – Nachteile in Kauf zu nehmen, um dafür in ferner Zukunft eine bessere Lebensgrundlage erreichen zu können. Wir verstehen auch besser, warum irgendwelche befürchteten Bedrohungen durch „Überfremdung“, schlechtere makroökonomischen Wirtschaftsdaten, die oft nicht mal wirklich verstanden werden und vieles mehr sehr starke Abstiegsängste erzeugen können, obwohl davon in unserer realen Umgebung noch gar nichts sichtbar ist und sogar keine Kausalität bekannt ist, ob das tatsächlich passieren wird.

 

Es ist übrigens nicht falsch, wenngleich unpräzise, dieses Verhalten „dumm“ zu nennen. Kahneman hat den Begriff gemieden, weil er tatsächlich wissenschaftlich nicht sinnvoll definierbar und damit unbrauchbar ist, weil aber ebenso bekannt ist, dass man Menschen besser erreicht, indem man ihnen diese „Verzerrungen“ als Normalität erklärt und trotzdem nahe legt, damit einen besseren Umgang anzustreben. Denn das unterscheidet den „Dummen“ dann doch vom „Klügeren“, der Unterschied ist also nicht die grundsätzliche Veranlagung, „dumm“ zu handeln, die wir alle in uns tragen, sondern die besser oder schlechter ausgeprägten Fähigkeiten, damit umzugehen. Irgendwo meine ich sogar gelesen zu haben, dass Klugheit die Begrenzung der uns innewohnenden Dummheit ist. Das wäre jedenfalls keine schlechte Formulierung.

 

Bezogen auf das Wahlergebnis ist in einem insgesamt sehr komplexen Geschehen, das zudem Teil eines langfristigen Prozesses ist, ein kleiner Baustein wohl diese Abstiegsangst. So jedenfalls beobachten das viele Experten, zudem als Parallele in vielen westlichen Industrienationen. Damit will ich ausdrücklich nicht sagen, dass es keine Absteiger oder Abgehängten in unseren Gesellschaften gibt, Gettobildungen durch Migration, Veränderungen der Sicherheitslage durch Flüchtlingsströme – für diese selbst so ganz nebenbei übrigens auch. Dennoch ist die reale Risikosituation für die meisten eine ganze andere. So ist die bei weitem größte Gefahr für einen persönlichen Vermögensverlust der Kauf eines schlechten Anlageprodukts aufgrund einer falschen Beratung und da ist der Sparplan wiederum statistisch viel häufiger als der geschlossene Fonds auf Trockenfrüchte in Regenwäldern. Haben wir deshalb vor unserem seriösen Bankberater mehr Angst als vor einem Taschendieb mit verdächtig dunklen Augen? Besser wäre es! Leib und Leben sind – jenseits von Krankheiten – statistisch immer noch primär durch Unfälle, konkret durch Haushaltsunfälle, gefolgt von Verkehrsunfällen bedroht. Gilt unsere Aufmerksamkeit rutschsicheren Teppichen, Konzepten für verkehrsberuhigte Innenstädte, einem Tempolimit oder der Entwicklung von Messerattentaten? Unser konkreter Job ist statistisch am meisten durch Fehler unserer Chefs bedroht. Beschäftigen wir uns primär mit dessen Entscheidungen oder mit Zuwanderungszahlen in unseren Arbeitsmarkt?

 

Wer diese nüchternen Vergleiche abwegig findet, sollte seinen Kahneman zuerst mal lesen, denn diese Vergleiche von selbstverständlich unvergleichbarem, haben dennoch eine simple Logik: Wir wären viel erfolgreicher, wenn unsere größte Aufmerksamkeit den Einflussfaktoren gelten würde, die für uns die größte Wirkung haben und die wir konkret beeinflussen können. Das gilt gerade also ganz besonders für Abstiegsängste. Aber: Machen wir halt nicht! Selbst in klar abgegrenzten Experimenten mit viel leichteren Bewertungen als der komplexen Frage, ob wir uns durch eine weniger wachsende Wirtschaft oder ein Messerattentat bedroht fühlen, schaffen wir die logische Entscheidung, die wir eigentlich von uns erwarten, nicht.

 

Abstiegsängste haben also immer einen realen Grund, sie basieren auf Ereignissen, die es konkret gibt. Aber es ist bekannt, dass die politische Wirkung dieser Absteiger oder weiterer Gefährdungslagen weit größer ist oder sein kann, als ihre tatsächliche Relevanz. Es ist also verkürzt, in irgendwelchen Daten nach kleineren Anteilen oder geringeren Bewegungen zu suchen, zu sagen, dass ein paar Prozent Arbeitslose oder ein Hundertstel BIP-Schrumpfung objektiv kein Grund zu Sorge sind. Es kommt nämlich einzig auf die Wahrnehmung an und welche Erwartungshaltung sich daraus ergibt. Ebenso macht es keinen Sinn, darauf hinzuweisen, dass die statistische Gefährdung durch ein Messerattentat für eine Einzelperson immer noch irrelevant ist und das dabei Messerstechereien mit kriminellem Hintergrund immer noch dominieren.

 

Gerne wird übrigens darauf hingewiesen, dass diese Gefahren überflüssig seien, weil ja durch „Ausländer“ verursacht, die gar nicht da sein sollten und daher hinzu kämen. Aber, sorry, Statistik und Logik sind nicht bestechlich, das sind nämlich statistisch unabhängige Ereignisse und daher ändert das an der vorliegenden Bewertung gar nichts. Der Bankberater, der Chef, der Teppich, der Verkehrsweg – das sind die relevanten Gefahren und die werden durch die anderen nicht beeinflusst. Außerdem nicht missverstehen: Es geht nicht darum, bei Migration oder Wirtschaftsentwicklung wegzusehen, die Rede ist von Aufmerksamkeit und Relevanz für unsere Bewertungen und Entscheidungen insgesamt. Es hilft aber nichts, weder kann Logik diese Aufmerksamkeit erklären, noch lässt sie sich so verbiegen, dass sie es doch tut. Es ist eine Frage von Wahrnehmung und Erwartungshaltung. Der eine wird aus Gründen, die er gar nicht so genau kennt, sagen, das berühre ihn nicht, der nächste wird es genau umgekehrt sehen und auch nicht wirklich wissen, warum. Laut Kahneman ist es ganz wichtig, sich auf die beiderseitige Verzerrung zu einigen, um dann doch wieder ins Gespräch über Logik, Wissen, Fakten etc. zu kommen, denn dass die eine bessere Entscheidungsgrundlage bieten, als unsere verzerrte Wahrnehmung und Kognition ist vielleicht noch unstrittig?

 

Was wir aber leider feststellen müssen: Man kann Kahneman et al. lesen, um Lösungen zu finden. Man kann ihn aber auch missbrauchen, um diese Verzerrungen zu nutzen, sogar zu vertiefen. Aus meiner Sicht ist erkennbar, dass in unserer modernen Medienwelt mit den Sozialen Medien ganz vorne, einige dieses „Handwerk“ enorm gut verstehen. Der Rattenfänger unserer Zeit nutzt Echokammern, Fakenwes, Desinformationen und Lügen, von denen die meisten sogar nichts mitbekommen, eben weil die so subtil und gezielt verteilt werden. Daher scheitert ein gesellschaftlicher Dialog oft bereits aufgrund einer Sache, die in der Kommunikationswissenschaft besonders kritisch gesehen wird: Informationsasymmetrien. Das ist eine sehr alte Erkenntnis, die beispielsweise auch in unseren Artikel 5 Grundgesetz (Freiheit der Meinung, der Presse, Wissenschaft, Kunst) eingeflossen ist. Eine Gesellschaft mit zu unterschiedlichem Informationsstand kann ihre Dialogbasis verlieren. Echokammern sind aber die Inkarnation von Informationsasymmetrie. Wenn wir wenigstens noch dieselben Lügen und Desinformationen lesen würden, wäre es sogar leichter!

 

Das wieder nur als kurzer Exkurs zum Schluss. Die wissenschaftlichen Grundlagen für gesellschaftliche Entwicklungen wie vorliegend, sind sehr gut. Das kann ich mit meinem Halbwissen behaupten. Die Wirkungsweise der Sozialen Medien und vor allem deren Dynamik ist in der wissenschaftlichen Analyse erst am Anfang. Hier tröpfeln stabile Erkenntnisse langsamer als die laufenden Veränderungen. Kognitive Verzerrungen spielen eine große Rolle, es gibt Vorschläge, wie damit umzugehen ist – aber in Kombination mit Sozialen Medien ist das Neuland.

 

Auf diesem Neuland sind leider einige Parteien und dahinter stehende Kräfte besser unterwegs als andere. Eine weitere Asymmetrie, die dringend zu erkennen ist. Von den Parteizentralen bis zu den Sicherheitsdiensten.


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