"Der Scharfsinn des fremden Blicks"

DMZ –  KULTUR ¦ Geri Dillier ¦ 

 

Heidy Gasser legt mit ihrem neuen Buch "Daheim in der Fremde" eine bewegende Geschichte nicht nur über ihre Mutter vor, sondern über den Versuch, anzukommen.

 

Die Mutter der Autorin Heidy Gasser kommt nach dem Zweiten Weltkrieg als junge Magd aus der Steiermark in die Innerschweiz, nach Lungern. Sie bleibt in Lungern, heiratet den Bauern, bei dem sie Magd war. Aber eine Einheimische wird sie nicht.

 

Heidy Gasser wollte mehr wissen von ihrer Mutter, von ihrer Herkunft, ihrer Kindheit und Jugend in der Steiermark, ihrem Leben in der Fremde. Erzähl mir Deine Geschichte! Und die Mutter beginnt zu erzählen, berichtet aus der Zeit, als sie noch die Friederike Lechner war, Tochter eines Messerschmieds und einer Bäuerin. Erzählend, erinnernd durchbricht sie das Dunkel erlittener Sprachlosigkeit. Erzählt von der Armut in ihrer früheren Heimat, von Gewalt und Hass, von Hunger und Elend. Und von der Allgegenwart des Todes. Sie will weg aus dem Dorf, aus dem Elend, in die Fremde, in eine bessere Welt.

 

Friederike zieht ihrer Freundin nach, kommt in die Innerschweiz, ins Bergdorf Lungern. Sie erzählt von ihrem neuen Leben in der Schweiz, wo sie von der namenlosen Magd zur Bäuerin wird, der Frieda Gasser. Obwohl sie ihre neue Heimat liebt, fühlt sie sich fremd, ist hin- und hergerissen zwischen der entrückten Heimat und der hautnahen Fremde.

 

Freiraum und ein grosser Atem

Suchen und Verlieren, dieses Hin und Her, das Fremdwerden des Eigenen und das Aneignen des Fremden prägen dieses vielschichtige Mutterportrait von Heidy Gasser. Es lebt von der seismographischen Genauigkeit im Erzählen und Zuhören, vom bildstarken Reichtum der Sprache, vom gewitzten Schalk der lebensstarken Mutter. Und doch bleibt der Rest von Ungesagtem, die Leere zwischen den Zeilen, der Respekt und die Achtung davor. Es ist das feinfühlige literarische Dokument einer Annäherung der Tochter zur Mutter und der Mutter zur Tochter; einer Annäherung freilich, die den Scharfsinn des fremden Blicks, den weiten Winkel der Distanz behält. Das ist das Verdienst der erzählenden Mutter. Und es ist das Verdienst der schreibenden Tochter, die der Erinnerung Raum gibt. Freiraum und einen großen Atem.

 

Nach dem Tod der Mutter findet Heidy Gasser beim Aufräumen rote Hefte. Handschriftliche Aufzeichnungen der Mutter. Kurze, knappe Notizen zu ihrem täglichen Befinden, ihrem Alltag, ihren Sorgen und Gedanken. Sie nimmt diese kostbaren Hefte zum Anlass, die Geschichte der Mutter noch einmal aufzunehmen. Über ihren Tod hinaus. An das Erinnern der Mutter reiht sich das Erinnern der Tochter an die verstorbene Mutter. Sie schreibt:‘Das letzte rote Heft liegt aufgeschlagen auf dem Tisch. Es gibt große Lücken, manchmal wochenlange. Dann wieder ein Eintrag mit deiner schönen, eigenwilligen Schrift. Es ist nur bis zur Mitte gefüllt, danach leere Seiten. Doch ganz zuhinterst steht in großer Schrift «Bin nach Hause».

 

Das Buch: "Daheim in der Fremde - Die Lebensgeschichte einer Migrantin aus der Steiermark" von Heidy Gasser, Blidfluss Verlag, 2024, ISBN 978-3-9525870-2-7

Heidy Gasser wurde 1957 im Kanton Obwalden in der Schweiz auf einem Bergbauernhof geboren. Von ihr sind schon mehrere Bücher erschienen, zuletzt der Roman "Die Verführerin" 2019. Zudem schrieb sie in Anthologien, Kurzgeschichten, Kolumnen und für Radio SRF. Heidy Gasser lebt heute nach Stationen in Zug und Luzern wieder im Kanton Obwalden.

 

Der in Sarnen lebende Geri Dillier ist Hörspiel-Regisseur, Hörfunk-Redakteur, Dramaturg und Kulturvermittler.


 

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