DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦
KOMMENTAR
Wie wenn es ein Jubiläum wäre: Pünktlich zum 1000. Tag des Ukrainekriegs hat Joe Biden sein Vermächtnis definiert und der Ukraine erlaubt, Mittelstreckenraketen amerikanischer Bauart gegen russische Ziele im Hinterland einzusetzen, bis 300 Kilometer hinter der Front. Tags darauf toppte er seinen Entscheid noch mit der Ankündigung, Anti-Personen-Landminen zum Einsatz zu bringen – ein abermaliger Verstoss gegen das Kriegsvölkerrecht. Keir Starmer, britischer Premier, hat nachgezogen und den Einsatz britischer Mittelstreckenraketen gegen Ziele in Russland ebenfalls erlaubt. Und von Friedrich Merz, möglichem neuen Kanzler, hören wir, dass er überhaupt keine Angst vor einem Atomkrieg habe. Sind die alle noch bei Trost?
Wolodimir Selenski, Präsident der Ukraine ohne demokratische Legitimation, beeilte sich, vom Angebot Gebrauch zu machen. Von russischer Seite wird das Vorgehen der NATO als signifikanter Eskalationsschritt behandelt. Zurecht: Ohne westliche Programmierung sind die Geschosse in den Händen der Ukrainer nutzlos. Westliche Programmierarbeit aber macht die NATO zum aktiven Kriegsteilnehmer. Für Wladimir Putin ist mit dem ultimativen Vorpreschen der Kriegsgurgeln die NATO in den Krieg gegen Russland eingetreten. Als Antwort hat er postwendend mit einer verschärften Doktrin des Nuklearkriegs gedroht.
Der Westen tut, wie wenn ihn das alles nichts anginge. Putin wird der Eskalation bezichtigt (und nicht etwa die NATO), aber zugleich wird die russische Reaktion bagatellisiert und als Muster ohne Wert abgetan, als hohles Säbelrasseln. Wir kennen das: Die NATO hangelt sich den von Moskau definierten roten Linien entlang, überschreitet sie, wo es nur geht, und wenn nichts passiert, ist man keineswegs bereit, Putin für seine Besonnenheit zu loben, sondern verspottet ihn und zünselt weiter. Wie wenn aus dem Umstand, dass bisher keine schwerwiegenden Reaktionen erfolgten, abgeleitet werden dürfte, das werde auch in Zukunft der Fall sein. Diesen hohlköpfigen Optimismus der Regierungen teilen wir nicht.
Unbestritten wahr ist, dass beidseitig eskaliert wird. «Beidseitig» heisst aus westlicher Optik: Schuld ist Putin, nämlich nach dem Narrativ, ein aggressiver Autokrat habe einen westlich-demokratischen Staat mit Angriffskrieg belegt und müsse zurückgebunden werden, weil er seine Aggression sonst weiter und weiter treibe.
Um dieser Mär entgegenzutreten, ist eine Rekapitulation der Fakten dringend angesagt. Es sind die folgenden: Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Selbstauflösung des Warschauer Paktes hat sich die NATO – entgegen aller Beteuerungen – der Reihe nach sämtliche früheren WaPa-Staaten unter den Nagel gerissen. Russland hat nichts dagegen unternommen, hat aber gewarnt, dass der Einbezug der Ukraine in diese Entwicklung eine rote Linie darstellen, deren Überschreitung man nicht dulden würde. Postwendend erfolgte die Provokation des Westens in Form einer Einladung der Ukraine zum NATO-Beitritt. In der Folge stimmte die CIA in Kiew die Bevölkerung systematisch auf einen West-Anschluss ein, putschte 2014 eine pro-russische Regierung (Janukowitsch) weg und ersetzte sie durch eine pro-amerikanische (Poroschenko). Russland reagierte mit der Besetzung der Krim und zweier Ostprovinzen der Ukraine, so völkerrechtswidrig, wie es der Kiewer Putsch gewesen war. Eine internationale Friedensregelung für die Ukraine (Minsk II) wurde vom Westen hintertrieben, indem die gewonnene Zeit zur Aufrüstung der Ukraine genutzt wurde. Diesen Betrug hat im Nachhinein Bundeskanzlerin Merkel frank und frei zugegeben. 2022 hatte Putin genug davon, dass der Westen sämtliche seiner Sicherheitsanforderungen ignorierte und marschierte in die Ukraine ein.
Was heisst das alles? Es heisst, dass Russland exakt das tut, was auf der Gegenseite als selbstverständlich gelten würde, Völkerrecht hin oder her. Russland verteidigt seine Einflusssphäre. Demgegenüber argumentiert der Westen mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Das ist eine schöne Kategorie aus dem Katalog der UNO-Satzungen, die von den USA immer dann angerufen wird, wenn irgendeine totalitäre Macht das Selbstbestimmungsrecht eines Drittstaats verletzt. Ist man aber selbst Urheber entsprechender Willkür, so will man davon nichts wissen, sondern schwafelt von Demokratie und Menschenrechten… wie hundertfach gesehen in Vietnam, Kambodscha, Guatemala, im Irak, in Serbien und Libyen etc. Nie im Leben würden die USA akzeptieren, dass Russland an der Grenze zu den USA atomare Mittelstreckenraketen aufbauen oder dass russische Investitionsgesellschaften Bodenschätze im amerikanischen Vorland erwerben würden – Völkerrecht hin oder her. Solches erwartet man aber von Russland; und wenn Russland nicht artig ist, so gilt es als totalitär und sein Regime muss wegsanktioniert werden.
Man bedient sich hierbei eines Selbstverständnisses, das auf das Jahr 1823 zurück geht, als das restaurative Europa die Doktrin des amerikanischen Präsidenten Monroe akzeptierte, ganz Süd- und Mittelamerika zum Hinterhof amerikanischer Interessen zu behandeln. Seither ist es für die USA eine Selbstverständlichkeit, per Doktrin einseitig internationales Recht zu setzen. Washington locuta, causa finita (Washington hat gesprochen, Sache erledigt). Theodor Roosevelt wiederholte den Vorgang, Truman, Eisenhower – alle haben sie ihre «Doktrin» abgesondert, und die Welt hat alles geschluckt.
Hat man aber je etwas von einer Lenin-, Gorbatschow- oder Putin-Doktrin gehört? Selbstverständlich nicht. Kein Mensch auf dieser Welt käme auf den Gedanken, eine einseitige Rechtssetzung aus sowjetischer oder russischer Quelle zu anerkennen. Aber der Krug geht bekanntlich zum Brunnen, bis er bricht. Biden ist nicht Monroe, und die heutigen USA sind nicht die aufstrebende Weltmacht, die sie waren. Biden ist ein Tattergreis, der keine Autofahrprüfung bestehen würde. Was gibt ihm das Recht, die Welt an den Rand eines Weltkriegs zu führen? Weshalb glauben die USA, sie hätten ein ewiges Abonnement auf die Weltherrschaft? Der sich ankündigende Isolationismus unter der Präsidentschaft von Donald Trump mag sich zweifelhaft auf die amerikanische Innenpolitik auswirken, aber er bleibt die Chance Europas, nicht zum Spielball nuklearer Mächte zu werden. Es ist einzig zu hoffen, dass die europäischen Staatschefs bis dahin keinen irreparablen Schaden anrichten.
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Dr. Reinhard Straumann ist Historiker und verfügt über das nötige Fachwissen. Als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich zudem jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen engagiert. Wir freuen uns, dass Reinhard Straumann regelmäßig zum Wochenende einen festen Platz in der DMZ unter dem Titel „Straumanns Fokus am Wochenende“ hat.
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