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Das Lindner-Papier mag politische Relevanz haben – ansonsten sagt es mehr über den Autor als über seinen versprochenen Inhalt

DMZ –  POLITIK ¦ Dirk Specht ¦    

KOMMENTAR

 

Das Lindner-Papier mit einem atemberaubenden „Wende-Titel“ mehr, ein offizielles des Finanzministeriums, an keiner Stelle als Entwurf oder Diskussionsgrundlage gekennzeichnet, angeblich irgendwie versehentlich veröffentlicht, danach (?) nun auch auf der FDP-Website verfügbar, wird momentan breit diskutiert. Das ist politisch nachvollziehbar, inhaltlich nicht.

 

Die Koalitionspartner sind primär empört, was erkennbar auch Absicht war, der Oppositionsführer Merz saugt den Honig, der ebenfalls Absicht war: Er sagt, da stehe richtiges drin (was auch so ist), er weist darauf hin, dass diese richtigen Ideen auch seitens der Union bereits vorgelegen hätten (was mangels jeglicher inhaltlicher Konkretisierung nicht nachprüfbar ist) und man könne darüber reden. Empörung und wohlwollend inhaltsfreie Empfangsbestätigung, die wenig überraschende politische Reaktion.

 

Was das nun politisch zur Folge hat, wird sich zeigen. Manche nennen es „Scheidungspapier“ und stellen bereits historische, das „Papierchen“ m.E. maßlos überbewertende Vergleiche an. Vielleicht ist es ein Dokument, das mal als Auslöser eines vorzeitigen Regierungsendes stehen bleibt, vielleicht verschwindet es auch als eines von vielen, mit denen Regierungsmitglieder gegeneinander vorzeitigen Wahlkampf machen.

 

Jenseits der noch unklaren politischen Bedeutung, ist das „Papierchen“ inhaltlich bedeutungslos. Allenfalls sind ein paar Defizite des Autors von vielleicht so etwas wie anekdotischem Wert.

 

Was an dem Dokument richtig ist, betrifft die inzwischen erschöpfend ausreichend erwähnten Feststellungen: Wachstumsschwäche, Investitionsschwäche, etc. etc. Gelegentlich wird übrigens erkannt, dass es dasselbe Thema ist, wenn man es in umgekehrter Reihenfolge erwähnt und die Langfristigkeit des Zusammenhangs nicht verschweigt, wird das noch richtiger. Ach ja, Bürokratie und Regulierung werden auch genannt. Operativ ist an der Stelle die Frage erlaubt: Wer aus der konkret handelnden Politik erwähnt das nicht?

 

Das ist ohnehin alles ausreichend rauf und runter erzählt sowie vor allem beklagt und bejammert. Bei u.A. Draghi kann man es substanzieller lesen und auch der hat natürlich diesbezüglich nur das Mandat gehabt, das längst bekannte dann mal sauber aufzuschreiben. Nun also auch Lindner, mit dem Mut zur Lücke, denn während er nicht spart, seine Regierungspartner zu Verursachern zu erklären, gibt es zu seiner eigenen Rolle und Wirkung: Nichts.

 

Interessanter wäre nun seitens des Absenders, womit nicht Lindner als Person, sondern der deutsche Finanzminister als Amt gemeint ist, was sich im Lösungsteil an kraftvollen, vielleicht dem Titel des Dokuments mit einer gewissen Nähe zu verortenden Lösungskonzepten findet.

Nun, zunächst die Klarstellung: Hier findet der vorliegende Text ein rasches, keine feststellbare Lücke hinterlassendes Ende!

 

Was bleibt, ist nämlich einzig die wie erwähnt vielleicht anekdotische Mängelfeststellung. Tatsächlich leistet der Autor sich teilweise die „Freiheit“, nichts geringeres als sachlich falsche Stammtisch-Narrative zur Energiewende zu wiederholen: Alleingänge, die es nicht gibt, Geraune über „Kosten“, die nicht mal die Definition dieses Begriffs treffen, ich erspare ihm die vollständige Aufzählung, manchmal ist sparen tatsächlich angemessen. Ausgerechnet er hat das an der Stelle leider übersehen.

 

Denn: Von besonders enormer Kraft in diesem Kontext ist der Vorschlag, den Rückstand beim Netzausbau durch einen Rückstand beim Erzeugungsausbau zu beantworten. Wir lernen mit einer Metapher aus der Biologie, dass ein Organismus, der wegen Eiweißmangels nichts wachsen kann, besser weniger Kohlehydrate zu sich nimmt, damit er weniger Energie hat. Wie lautete noch der Titel des Dokuments? Irgendwas mit Wachstum – spätestens an der Stelle hat man es bei der Lektüre besser mal spontan vergessen.

 

Nun sind Energiethemen nicht wirklich Kernkompetenz des Ministers sowie seiner Parteikollegen, das ist durch ausreichend viele Unfälle bei Äußerungen zu so lästigen Dingen wie Effizienz, Wirtschaftlichkeit etc. dokumentiert.

 

Widmet man sich insofern dem Ressort des Ministers, so sollte man nicht zu viel erwarten, es könnte zur Enttäuschung führen. Wenn man die Details weglässt, lautet der einzig relevante Lösungsvorschlag zusammengefasst: Allgemeine Steuersenkungen, vor allem für Unternehmen, nebst deren angeblicher Wirkung, bei zugleich natürlich einer weiteren Betonung der Schuldenbremse. Einmal mehr die Weltformel, aus weniger mehr zu machen. Das ist natürlich keine neue FDP-These, aber man sollte schon darauf hinweisen, dass die damit gescheiterten Amerikaner wenigstens etwas ehrlicher waren: Die sagten dazu, dass die Steuersenkungen zu steigenden Staatsschulden führen werden, die dann erst durch das entfachte Wachstum zurück geführt werden können. Der erste Teil hat übrigens funktioniert, der zweite nicht. Ob ein weiterer Versuch lohnt, das gar ohne Staatsschulden zu erreichen, wird mangels mathematischer Machbarkeit nie ermittelt werden.

 

An der Stelle wagt sich das „Papierchen“ übrigens in eine „tiefere“ makroökonomische „Analyse“, die tatsächlich eine nähere Betrachtung wert ist: Das beigefügte Chart mit dem unterschiedlichen Verlauf von Unternehmensinvestitionen wird neben einem mit der Unternehmensbesteuerung platziert. Ohne viele Worte wird daraus abgeleitet, dass die Steuerlast in dem einen Chart, die Investitionsbereitschaft im anderen erklärt. Lassen wir lästige Details weg, dass hier bereits die aufgeführten Länder nicht so ganz passen, gibt es zwischen diesen Daten offensichtlich nicht mal eine Korrelation, welche bekanntlich immer noch keine Kausalität bedeuten würde. Aus einer nicht existierenden Korrelation aber gar eine Kausalität zu behaupten, wird leider seit den diversen Theoremen von Sinn et al. immer üblicher – besser ist es deshalb jedoch nicht.

 

Nun ist das linke Bild mit den Investitionen tatsächlich so etwas wie relevant, wenngleich verkürzt. Dass im Kapitalismus der Einsatz von Kapital und nicht dessen „Enthaltsamkeit“, um nicht sparen zu strapazieren, als Erfolgsprinzip gilt, hat sich zumindest über die Stammtische hinaus herumgesprochen. Auch das lässt sich u.A. bei Draghi etwas genauer ablesen, denn Kapitalquellen sind bekanntlich Staaten, Unternehmen und Privathaushalte. In der besten aller Welten, bewegen die sich alle, das ist momentan den USA gelungen, in der schlechtesten, macht es keiner mehr, das haben die Deutschen „geschafft“. Der fachlich relevante Streit dreht sich daher primär darum, wie man das ändern kann und wer welche Rolle dabei übernimmt.

 

Nun findet sich bei Lindner unter diesem Chart die wenigstens notwendige Überlegung, wie man das erreichen kann. Sein Vorschlag: Steuersenkungen für alle, vor allem für Unternehmen, ebenfalls alle. In demselben Absatz, das „Papierchen“ soll ja provozieren, werden hingegen einmal mehr die Konzepte staatlicher Förderung gegeißelt. Die gehen also gar nicht. Dass diese generellen Steuersenkungen für alle natürlich für die Staatsdefizite sogar besonders hohe Belastungen erzeugen, findet keine Erwähnung. Fachlich ist ausreichend untersucht, dass breite Steuersenkungen allenfalls auch Investitionen fördern, aber insbesondere über die Steigerung von Netto-Erträgen aus Unternehmen sowie Einkommen dem allgemeinen Konsum sowie der Sparquote zufließen. Daher gelten breite Steueranreize eher als Maßnahme, Kapital zu sammeln, aber weniger, es zu motivieren sowie als Programm zur Konsumsteigerung.

 

Ausgerechnet so ein eher die breite Nachfrage förderndes und auf der Kapitalseite allenfalls indirekt wirkendes Instrument soll hier als Investitionsanreizprogramm eingesetzt werden? Da wären wir wieder bei einer Effizienzfrage, jedoch einer aus dem Fachbereich Finanzen. Tatsächlich gilt es seit Adenauer gerade im deutschen System als Standard an der Stelle mit gezielten Steueranreizen zu locken, was nebenbei bemerkt die Amerikaner beim IRA exakt so machen. Das ist also nichts neues, nichts ungewöhnliches und auch keineswegs etwas nicht markwirtschaftliches, sondern im Gegenteil ein typisches Instrument insbesondere des Finanzministers, der exakt damit historisch in Deutschland sogar als der wirtschaftlich viel einflussreichere als der Wirtschaftsminister gilt. Die berühmte „Sonder-AfA“ für was auch immer muss man dem amtierenden Amtsinhaber wohl nicht erklären, das dürfte er wissen.

 

Sein Problem ist aber, wie sich diese strukturierten und gezielt gesetzten Steueranreize nennen: Subventionen. Das aber geht in der Lindner´schen Nomenklatur nicht. Keine Schulden, keine Subventionen, keine staatlichen Eingriffe. So verengt man seine eigene „Lösungskraft“ natürlich auf so einen verkürzten Unfug wie allgemeine Steuersenkungen ohne weitere Schulden als Investitionsanreizprogramm – womit gleich drei diametrale Widersprüche in einem Satz formuliert sind. Das ganze übrigens im globalen Wettbewerb mit Systemen, die exakt mit solchen gezielten Anreizen ohne Ende arbeiten, wo der Unternehmer sich weltweit aussuchen kann, welche Subventionen (in Form von Steueranreizen oder direkten Zuschüssen) für welche Aktivität er wo bekommt. Da will Lindner mit der Senkung von irgendwelchen Steuersätzen um ein paar Punkte konkurrieren, mit denen ihm der Haushalt sofort um die Ohren fliegt und er allenfalls etwas für die Tagesgeldbestände der Banken sowie die Reisebranche tut, die noch mehr Konsumgeld ins Ausland bringt?

 

Wirres, kontraproduktives, widersprüchliches Zeug!

 

Abschließend, damit nicht der Vorwurf kommt, ich hätte das „Papierchen“ nicht gelesen und neben der Energiewende unerwähnt gelassen, dass der Finanzminister die Deutschen dazu aufruft, mehr zu arbeiten, so sei hier ebenfalls anekdotisch erwähnt: Der Finanzminister ruft dazu auf, mehr zu arbeiten. Er fordert auch eine Wende in der Asylpolitik. Er fordert ohnehin ganz viel. Auch das sei erwähnt. Erreichen will er das durch, Überraschung, die Senkung von Steuern und Abgaben – sowie natürlich Sozialleistungen. Wenn in einer Industrienation des derzeitigen Jahrtausends die Sozialhilfeempfänger mehr Anreize erhalten, für Mindestlöhne zu arbeiten und weniger Migranten welcher Ursache auch immer unterzubringen sind, wird das – wie war das noch mit dem Titel des Wende-Dingsda – alles ganz ganz viel dolle besser.

 

Anstrengend!


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