DMZ – POLITIK ¦ Dirk Specht ¦
KOMMENTAR
Beim längst begonnenen Endspiel um die Macht in Berlin haben Schuldenbremse und Finanzen eine große Rolle. Wäre es nicht so bedeutend, müsste man Popcorn auf Vorrat legen. Was da an diverser kreativer Buchhaltung in vermutlich mehreren Dutzend Vehikeln schon immer geritten wurde, ist keineswegs neu.
Bisher hatte die jeweilige Opposition es lediglich dabei belassen, das anzuprangern, den Revolver also durchaus mal in der Hand gehalten, aber keiner war so verwegen, abzudrücken. Bis Merz kam. Schäuble muss im Hinterzimmer rot geworden sein, denn es ist vollkommen offen, wie man dieses einmal begonnene Spiel weiter spielen, gar nach dem Etappenziel der Macht beenden möchte. Zumal: Das Verfassungsgericht hat als ganz maßgebliche Vorgabe die Jährlichkeit festgestellt – und das ist so ein fundamentaler Griff in die gängigen Werkzeuge der bisher allseits üblichen Trickkiste, dass vermutlich primär gerätselt wird, wie man da wohl wieder raus finden kann.
Hindert trotzdem nicht, das Endspiel zuerst mal laut weiter zu spielen. Nun sind also im laufenden Haushaltsentwurf, der angeblich verfassungskonform irgendwie geschraubt werden konnte, schon wieder diverse Mittel in den Tiefen des Maschinenraums verwendet, die aus irgendwelchen Gründen in irgendwelchen Jahren vom Himmel gefallen sind und in anderen Jahren Verwendung finden sollen. Geht vermutlich nicht, sagen zwei Gutachten. Wobei man über die wie immer auch streiten kann, die SPD liest die anders als der diesbezüglich „plötzlich“ so besonders akkurate Finanzminister und natürlich die Opposition. Was mit der Verfassungskeule so alles geht – wie man die einfangen mag, wird viel Popcorn benötigen.
Nun wäre es Anlass, für die staatlichen Finanzen mal eine moderne Rechnungslegung (Vermögensbilanz, Rückstellungen, wirtschaftliche Lage und deren zukünftige Entwicklung) zu diskutieren und dabei einige KPIs zu entwickeln, wie man die Mittelverwendung (Effizienz, Zielerreichung, Reporting, Benchmarking, ROIs) professionell bewertet. So aber funktioniert ein politisches Endspiel nicht. Man muss das Märchen, man sei an einer „verfassungskonformen“ Haushaltsführung interessiert, so lange wie möglich weiter erzählen.
Das hat noch viel mehr Wucht als in früheren Zeiten, als man von „soliden“ Haushalten sprach oder je nach Opposition auch von „fairen“. Was sind das für schwache Attribute gegen den heutigen Revolver, auf dessen Lauf man gar die Verfassung selbst schreiben konnte.
So lässt sich dann ein großer Teil der Öffentlichkeit verblöden, die gar bei den einen von den Gralshütern der Verfassungstreue ausgehen, während die anderen sogar das höchste aller Gerichte dauernd nur betrügen wollen. Die Verblödung geht weiter, indem man aus dem Sägewerk der Finanzdebatten den ältesten aller Hobel heraussucht, den Streit um Sozialausgaben, Unterabteilung Kleingeld, Kommunikationsziel Neiddebatte. Die ganz großen Volkswirte wollen die Genesung der drittgrößten Ökonomie anhand von Radwegen in Peru erklären, aber die größere Masse der Ökonomen unter uns lässt sich mit Bürgergeld oder irgendwas Rund um Kinder, vielleicht Wohnungen locken.
Nun ist es vollkommen legitim, bei knappen Kassen – die aber, hüstel, kleine Nebenbemerkung, gar nicht knapp sind, sondern nur erstens zu klein und zweitens zu ineffizient verwendet – über jeden Posten zu streiten. Noch so eine Nebenbemerkung: Dieser Streit ist auch bei prallen Kassen legitim, er wird dabei aber leider oft versäumt. Was dabei jedoch nicht fehlen darf: Erstens ist dann aber auch wirklich über jeden Posten zu streiten und bei jedem Posten ist auch dessen Relevanz zu erwähnen. Unterlässt man das, könnte es passieren, dass eine angebliche Debatte über die Gesamtsache vernebelt wird durch eine um Nebensachen – wobei das andererseits auch Methode sein kann.
Übrigens eine, auf die man sich politisch sehr schnell einigen kann, denn wer will schon über eine Gesamtsache ernsthaft streiten, bei der man sich einig ist – zumindest darin, dass keiner dieses dicke Brett bohren will. Nun könnte jeder Bürgergeld-Wüterich sich einfach mal ein paar ganz simple Daten anschauen, um seine Empörung anderen Themen zu widmen. Ich warne aber davor, das kann für einen großen Teil unserer Gesellschaft dazu führen, über sich selbst empört zu sein – was zwar förderlich sein könnte, vermutlich dann aber doch wieder andere Empörungswege findet.
Einfach feststellbare Tatsache ist, dass unser „Sozialbudget“ sehr langfristig immer weiter steigt, es hat inzwischen ca. 30% des BIP erreicht. Das findet seit den 90ern unter Regierungen aller Parteien beschleunigt statt und das wird, sofern man an das große Ganz nicht doch mal heran geht, bei jeder Regierung so weiter gehen. Diese parteipolitischen Zuordnungen, die einen könnten das besser oder schlechter als die anderen, sind vollständig falsch oder im Einzelfall auch verlogen. Die 30% sind inzwischen in absoluten Zahlen, mit denen so viele gerne hantieren, die stolze Summe von 1,25 Billionen Euro pro Jahr. Zum Vergleich: Alle Leistungen um alle unsere Kinder liegen bei 59 Milliarden, das Bürgergeld bei 54 Milliarden, die unerhörte Sache mit Wohnungen bei 5 und der Wahnsinn an Förderungen für Aufstieg bei 3. Radwege in Peru stehen hier nicht in Rede, dieser ökonomische Untergang wird woanders verbucht.
Nun ist diese Entwicklung global gar nicht ungewöhnlich. Je nach Alterung der Gesellschaften ist es mal sogar mehr als ein Drittel, mal weniger. Die Besonderheit bei uns ist die Refinanzierung dieser Leistungen: Hier spielt der Staat tatsächlich die größte Rolle und zwar in Form der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme sowie als deren Besenwagen der Bundeshaushalt. Aufgrund deren Finanzbasis heißt das aber: Die Erwerbstätigen finanzieren Jahr für Jahr die sozialen Sicherungssysteme, relevante Rücklagen gibt es nicht. Das ist strukturell seit der ersten Regierung Adenauer so und insofern muss man hier auch nicht anfangen, selbst das schon wieder über die beliebten Parteikärtchen und Fähnchen zu erklären.
Nun ist klar, dass wir durch diese Systematik I) eine sehr hohe anteilige Belastung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmern und II) ein wachsendes strukturelles Problem bei der Alterung der Gesellschaft bekommen. Auch das hatte die erste Regierung Adenauer bereits erkannt und eine ausreichende Geburtenrate als Voraussetzung für das System festgestellt. Insofern also auch dazu bitte keine Wurfspiele mit Parteifähnchen. Da bereits I) irgendwann zu Lasten führt, die nicht mehr tragbar sind – hier sind auch Arbeitgeber und deren Sicht auf die Arbeitskosten im Boot – ist schon lange klar, dass die Steuerhaushalte einen stärkeren Anteil übernehmen müssen. Auch wenn es langweilt: Wieder keine Sache für die Parteifähnchen. Ebenso langweilig: Das wird zunehmen, insbesondere der Bundeshaushalt, um den hier so heftig gestritten wird sowie dessen Sozialanteil werden schlicht immer weiter wachsen. Das wissen auch die Herren Merz, Lindner et al. Das wissen sie alle, sie reden nur unterschiedlich darüber.
Natürlich wird auch das Grenzen finden, denn der Bundeshaushalt kann das nicht ewig stemmen – und genau an der Stelle wären Schulden zur Refinanzierung tatsächlich das Teufelszeug, das Schulden ganz generell nachgesagt wird, was so ganz generell aber nun mal gefährlicher Unsinn ist. Daher wäre eine Lösung für II) eigentlich der wichtigste Teil der Debatte. Darüber aber streitet oder redet: Niemand! Genau hier ist aber leider doch ein Unterschied zu vielen global anders aufgestellten Volkswirtschaften zu verzeichnen, denn da finden sich rücklagenbasierte Systeme, die daher mit der Alterung besser zurecht kommen. Das Problem ist also nicht dieses Drittel, um das eine „Spardebatte“ mehr geführt wird, die komplett verlogen ist, weil man da nur durch zwei Methoden wirklich sparen kann: Breite Altersarmut und Kürzung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens. Ein Schelm, wer vermutet, dass diese „Sparmaßnahmen“ parteiübergreifend längst ins Werk gesetzt sind.
Auch das wissen übrigens alle, die tatsächlich möglichen Sparmaßnamen dürften allen bekannt sein, aber darüber redet man nicht so gerne. Auch die Tatsache, dass hier für weite Teile der Gesellschaft Leistungen zugesagt sind, für die keine Mittel zurückgestellt sind, wird ungern offen gelegt. Das könnte die Sache mit den bösen Schulden, die man kommenden Generationen nicht überlassen darf, in ein Licht stellen, das den politischen Verkaufsprozess der soliden Haushaltspolitiker stören würde – und mangels Lösung für die eigene Zielgruppe schweigen die anderen genauso.
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Phil (Dienstag, 06 August 2024 06:23)
Zum Thema Rente:
Es kommt nicht darauf an, dass es besonders viele Einzahler gibt, sondern es hängt davon ab, dass die Löhne entsprechend zur Produktivität steigen, was in den letzten Jahrzehnten nicht passierte, da seit Einführung von Hartz-IV auf Lohndumping gesetzt wird, damit Deutschland auf Kosten anderer Länder leben kann. Deswegen auch wieder die Verschärfungen beim nur umbenannten H-IV.
Adam Smith nannte sowas Beggar thy neighbor.
Und es ist letztlich auch egal, ob dieses als Umlageverfahren oder kapitalbildend ausgeführt wird, denn die Rente wird immer aus dem laufenden Volkseinkommen bezahlt -> Mackenroth-Theorem