DMZ – MEDIZIN ¦ Anton Aeberhard ¦
In der Medizin ist Veränderung nie einfach, insbesondere wenn Experten aufgefordert werden, ihre langjährigen Überzeugungen über eine Krankheit zu überdenken. Diese Herausforderung wurde von dem Philosophen Thomas Kuhn in seiner bahnbrechenden Analyse wissenschaftlicher Revolutionen als "Paradigmenwechsel" beschrieben.
Dieser komplexe Prozess tritt auf, wenn aufstrebende wissenschaftliche Erkenntnisse etablierte Annahmen in Frage stellen, und er ist von Natur aus von Widerstand begleitet.
Ein Paradigmenwechsel klingt in der Theorie einfach: Neue wissenschaftliche Erkenntnisse fordern alte Ansichten heraus, und das Wissensfundament muss aktualisiert werden. Doch in der Praxis stoßen solche Aktualisierungen oft auf vehementen Widerstand, sei es von Einzelpersonen oder von Institutionen, die an den alten Überzeugungen festhalten. Der Grund für diesen Widerstand liegt oft in der Angst vor persönlicher und beruflicher Veränderung.
Dieses Muster ist heute in der laufenden Debatte über die Ursachen von zwei schwerwiegenden Gesundheitszuständen zu sehen: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungssyndrom (ME/CFS), früher als Chronisches Erschöpfungssyndrom bekannt, und Long COVID, der Begriff für die anhaltenden Gesundheitsprobleme nach einer akuten COVID-19-Infektion, auch bekannt als "Postakute Folgen von SARS-CoV-2" oder PASC.
Diese kontroverse Debatte konzentriert sich darauf, ob diese Zustände hauptsächlich durch psychologische Faktoren oder durch zugrunde liegende physiologische Prozesse verursacht werden. Die Ergebnisse dieser Debatte sind von enormer Tragweite, da sie die medizinische Versorgung von Millionen von Patienten beeinflussen und weitreichende Auswirkungen auf die Gesundheitspolitik haben.
Jahrzehntelang galt der vorherrschende Ansatz bei ME/CFS der Graded Exercise Therapy (GET) und der kognitiven Verhaltenstherapie (CBT). Diese Ansätze basierten auf der Hypothese, dass die Symptome von ME/CFS hauptsächlich psychologischer und verhaltensbezogener Natur seien und dass Patienten durch eine schrittweise Steigerung der körperlichen Aktivität oder durch psychologische Therapie wiederhergestellt werden könnten. Diese Ansicht wurde von vielen in der medizinischen Gemeinschaft akzeptiert und fand sich in Leitlinien und Empfehlungen wieder.
Im Jahr 2015 begann sich dieses Paradigma zu ändern, als Berichte des Institute of Medicine und des National Institutes of Health zu dem Schluss kamen, dass ME/CFS eine ernsthafte körperliche Erkrankung sei und nicht in erster Linie auf psychologische Faktoren zurückzuführen sei. Gleichzeitig wurden methodische Mängel in Studien entdeckt, die die Verwendung von GET und CBT stützten.
Dies führte dazu, dass Institutionen wie das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) in Großbritannien und das National Health Service ihre Empfehlungen bezüglich ME/CFS-Behandlungen überarbeiteten. In der endgültigen Leitlinie von NICE im Jahr 2021 wurden GET und CBT nicht mehr als Hauptbehandlungen empfohlen. Dies löste jedoch heftigen Widerstand von Befürwortern dieser Therapien aus.
Die Debatte um ME/CFS hat auch Auswirkungen auf die Versorgung von Long-COVID-Patienten, da viele von ihnen ähnliche Symptome wie ME/CFS aufweisen. Die Herausforderungen bei der Anerkennung und Versorgung von Long-COVID-Patienten zeigen, wie Paradigmenwechsel in der Medizin auch politische und wirtschaftliche Dimensionen haben.
Trotz des Widerstands gegen neue Erkenntnisse und den Paradigmenwechsel gibt es Hoffnung. Institutionen wie NICE und die CDC haben bereits erkannt, dass die Evidenz für GET und CBT schwach ist. Die Zukunft erfordert eine interdisziplinäre Herangehensweise, bei der die Bedürfnisse der Patienten im Mittelpunkt stehen.
Die Gesundheitsversorgung muss sich auf verlässliche wissenschaftliche Erkenntnisse stützen und veraltete Paradigmen überwinden, um den vielen Menschen zu helfen, die unter ME/CFS und Long COVID leiden. Diese Veränderungen sind notwendig, um die Wissenschaft voranzutreiben und die bestmögliche Versorgung für Patienten zu gewährleisten.
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