DMZ - BLICKWINKEL¦ Patricia Jungo ¦
Wundervoll weit…
Das Gras kitzelt ihre nackten Beine. Ja; so wie immer, ist es zu hoch und wie immer werfen die Nachbarn einen verstohlenen Blick in ihren Garten, wenn sie zum Briefkasten gehen.
Und genau wie immer, ist es ihr völlig egal. Sie hat Besseres zu tun: Es ist August; die Tage sind endlos und sie webt sich ihre Träume in die Hitze der Nacht. Im Schneidersitz, den Oberkörper sanft nach vorne gebeugt, begibt sie sich auf die Reise. Ihr Blick sucht die Sterne und sie schliesst ihre Augen, um wieder das Mädchen zu sein, das diese magischen Nächte liebt und tausende von Fragen zum Himmel schickt. Wie herrlich befreiend es ist, sich schlafend zu stellen und Vaters Rufen zu überhören! Herauszögern, so lange es geht; welch genialer Schachzug! Dieser Himmel hat ihre geheimen Küsse behütet, den nächtlichen Gesprächen mit Freunden gelauscht und Sterne über sie regnen lassen. Stundenlang sind sie zusammen im Gras gesessen, haben die Welt neu erschaffen und die Nacht zum Tag gemacht!
Das Mädchen bewundert die Sterne, will ihnen folgen, möchte wissen, was nach dem Himmel kommt und wie sich das Tor öffnen lässt. Alles andere kann getrost warten und seine Welt wird kleiner und doch wundervoll weit. Es schickt seine Sehnsucht in die samtschwarze Nacht. Der Himmel ist sein Zelt, die Sterne sein Licht, der Mond seine Zuversicht. Wie oft haben die Sterne seine Tränen mit Glitzer bestäubt und seine Seele zum Leuchten gebracht!
All diese kostbaren Funken, diese Perlen des Augenblicks haben seine Tage bereichert, die Jahre gekrönt und es zu der gemacht, die sie heute ist: die reife Frau, die wie damals im Schneidersitz im Garten sitzt. Das hohe Gras kitzelt ihre nackten Beine und ja; es ist wieder einmal zu lang. Und es ist ihr immer noch egal.
Einzig die Falten auf ihrem zart gebräunten Gesicht verraten den Weg, der hinter ihr liegt. Ihre Seele ist dieselbe geblieben und einige Antworten sind auf den Sternschnuppen in ihr Herz geflogen. Während viele noch auf ein Echo warten, haben sich andere in Sternenstaub aufgelöst, um auf immer im Universum zu ruhen.
Wie sehr sie sie immer noch liebt, diese Traumnächte und die Weite, die sie in ihr Herz zaubern. Sie haben ihr ein überaus wertvolles Vermächtnis hinterlassen; eine Erkenntnis, die ihr Leben in unglaublicher Weise bereichert und ihr Herz für andere noch weiter macht: Der Himmel ist nicht die Grenze und das Tor lässt sich nur mit dem Schlüssel der Liebe öffnen. Wir tragen ihn in unseren Herzen. Die Liebe allein ist die Quelle, die niemals versiegt, zum reissenden Fluss wird und die Menschen einlädt, sich in ihrer unendlichen Kraft wieder zu vereinen. Wie wundervoll ist die Freiheit, ihr im Vertrauen folgen zu dürfen! Sie hat sich entschieden; sie hebt ihren Blick und ihre Augen küssen dankbar den Himmel. Wie gut zu spüren, dass sie nicht weiss und dennoch die Gewissheit tief in ihrer Seele trägt…