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Natalies Diary: Darf man ultraorthodoxe Juden als rückständig bezeichnen?

Bildquelle: freepik.com
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DMZ –  Natalie Barth ¦                                Bildquelle: freepik.com

KOLUMNE

 

Eine grosse Diskussion ist im Gange!

Die NZZ gibt folgende Schlagzeile heraus:

«Politiker aus Solothurn setzt antisemitischen Tweet ab».

Andere Zeitungen melden ähnliches.

 

Um was geht es? Ein ehemaliger Solothurner Kantonsratskandidat verfasst folgenden Tweet: «Frage an @stadtzürich: Welches Formular muss man bei Euch ausfüllen, um wie die ultra-orthodoxen Juden einen eigenen Stadtteil in Zürich zu bekommen und gleichzeitig nicht für das rückständige Leben verurteilt zu werden? Danke im Voraus.» In der Folge wird ihm Antisemitismus vorgeworfen und man distanziert sich öffentlich von ihm, da er die Juden, vor allem die, die in dem besagten Stadtteil von Zürich leben, als rückständig bezeichnet.

 

Darf man denn überhaupt orthodoxe (= streng gläubige) Juden als “rückständig” bezeichnen? Oder ist das schon antisemitisch?

 

Andere Frage: Darf man orthodoxe oder fundamentalistische (= streng gläubige) Christen als rückständig bezeichnen?

 

Ja? Nein?

 

Ist das im zweiten Fall okay, im ersten jedoch eindeutig “antisemitisch”?

 

Es ist kein Geheimnis, dass ich von sehr konservativen religiösen Gruppen nichts halte. Mir piepegal, ob das die Minderheit der Christen, der Muslime oder eben der Juden ist. Aus gutem Grund: Ich habe es selbst von klein auf erlebt, in einer «rückständigen» religiösen Gruppe aufzuwachsen!

 

Ich, die aus einer fundamentalistischen christlichen Gruppe ausgestiegen ist, sehe bei dieser Diskussion vielleicht etwas andere Punkte als jemand, der sich nie mit extremistischen religiösen Gruppen auseinandergesetzt hat und dem nicht bewusst ist, wie diese in unserer Gesellschaft unter dem Radar funktionieren.

 

Bevor hier also mit dem “Judenhasser”- Todschlagargument wild um sich geschlagen wird, wäre es äusserst empfehlenswert, nicht Juden (die Religion, Kultur oder Abstammung) im Generellen in einen Topf zu werfen mit dem orthodoxen oder mit dem ultraorthodoxen Judentum (sehr konservative Absplitterung(-en) des Judentums). Das geschieht, wenn man einfach nur «Juden» und «rückständig» aus diesem Tweet wahrnimmt und den Rest weglässt. Äusserst peinlich!

 

Eine kleine Hilfestellung für Bildungsfaule: Was bedeutet denn eigentlich orthodox oder ultraorthodox? «Unter Orthodoxie versteht man die strenge Auslegung der religiösen Texte. Sakrale Riten, Feste, Gewänder und Symbole haben eine große Bedeutung und gehen meist auf uralte Traditionen zurück. Orthodoxe Gläubige gibt es im Judentum genauso wie im Christentum und Islam. Die besonders strenge Form von orthodox nennt man ultraorthodox.» (Quelle: https://ch.galileo.tv/life/orthodoxes-judentum-was-ist-das-eigentlich/)

 

Es geht hier also nicht um eine gemässigte Religionsausübung, wie sie wohl die meisten Juden praktizieren, sondern um eine extremistische Ausübung. Mit Folgen. Einen Extremismus, den wir bei anderen Religionen eher weniger tolerieren.

 

Die NZZ beschrieb im Übrigen 2017 selbst das «erdrückende Monopol der orthodoxen Juden»: https://www.nzz.ch/meinung/kolumnen/das-erdrueckende-monopol-der-orthodoxen-juden-spaltet-die-israelische-gesellschaft-ld.1317373?reduced=true

 

Der Blick schrieb erst 2019 über die ultraorthodoxen Juden in der Schweiz unter dem Titel «So schwierig ist der Ausstieg»: «In der Schweiz leben 18 000 Menschen jüdischen Glaubens. Nur etwa 15 Prozent gehören zur jüdisch-ultraorthodoxen Gemeinschaft, von denen die meisten in Zürich-Wiedikon zu Hause sind. Sie ist eine der strengsten ausserhalb Israels.» (Quelle: https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/sam-friedman-36-war-vorbeter-in-der-ultraorthodoxen-juedischen-gemeinschaft-in-zuerich-so-schwierig-ist-der-ausstieg-id15245554.html).

 

Und von genau diesen ultraorthodoxen (nicht vom ganzen Judentum) handelt der Tweet des bösen Antisemiten, um den jetzt so heiss diskutiert wird. Diese streng gläubige Minderheit in der Schweiz hält sich – nach Aussage des Blicks - hauptsächlich in diesem besagten Stadtteil auf.

 

Ich bezeichne streng gläubige, fundamentalistische Christen auch als rückständig. Warum? Ein paar Kostproben:

  • Kein Sex vor der Ehe! Eine Heirat sollte nur mit Leuten aus der gleichen Religion erfolgen.
  • Die religiöse Wahrheit gibt es nur in der eigenen Religion, alles andere ist Götzendienst.
  • Alle ausserhalb der Gruppe werden als «Weltliche» bezeichnet, mit denen man am besten nicht so viel Umgang haben sollte.
  • Frauen dürfen nicht so viel wie Männer, ja sind den Männern sogar offiziell untergeordnet.
  • Privates bis in den intimsten Bereich des Lebens wird streng reguliert, beispielsweise die Kleidung, das Sexualleben und andere Verhaltensweisen.
  • Wer sich nicht daran hält, hat mit Konsequenzen zu rechnen usw….

 

Oh, je mehr ich nachforsche, desto mehr komme ich zu dem Ergebnis, dass genau die gleichen Punkte und ein paar ähnliche ja auch im ultraorthodoxen Judentum zu finden sind! Christen und Juden haben (mal so ganz nebenbei) eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Grundlage: Beispielsweise das Alte Testament und den Gott von Moses und Abraham. Und damit eine ganze Menge an rückständigen Regeln und überholten Denkweisen. Dass der Mann das «Haupt der Frau» und damit über ihr steht, ist nur eine der Antiquitäten, die beide in ihren Schriften zu bieten haben. Und die ganz besonders Strengen aus beiden Religionen leben das auch in der Praxis aus. Hier! Mitten unter uns!

 

Ich weiss aus persönlicher Erfahrung wie das in einer christlich fundamentalistischen Gruppe aussieht. Wie sieht das in der Praxis bei den ultraorthodoxen Juden aus? Wer ein paar seriöse Dokumentationen darüber sehen möchte, wie schwierig und ja, tatsächlich rückständig das Leben im ultraorthodoxen Judentum ist, darf dies gerne beim SRF höchstpersönlich tun, der einige Aussteiger zu Wort kommen lässt:

 

«Jude ohne Gott – Wie ist es, die jüdische ultraorthodoxe Welt zu verlassen?» https://youtu.be/WzKrwZRm408 

 

«Deborah Feldman: Viele Aussteiger nehmen sich das Leben» https://youtu.be/mBLk6FUszXA

 

Die Opfer dieser gefährlichen, religiösen Gruppierung, sagen genau das Gleiche wie die Opfer des orthodoxen Islam und der orthodoxen Christen!

 

Nur leider wird ihnen kaum Gehör geschenkt, sie werden nicht ernst genommen, sie erhalten nicht die gleiche Aufmerksamkeit wir die Aussteiger anderer Gruppen, vor allem christlicher oder esoterischer. Da schaut man in unserer Gesellschaft zum Glück bereits immer genauer hin und lässt die falsche und unangebrachte Toleranz mehr und mehr weg, um Opfern von solchen missbrauchenden Systemen wirklich zu schützen.

 

Warum wird bei dieser Gruppierung anscheinend bei vielen einfach weggesehen? Aus einem guten Grund: Weil keiner das heisse Eisen anfassen möchte und Angst davor hat, sofort als Antisemit beschimpft zu werden, wenn er auf die alarmierenden Zustände aufmerksam macht oder auch nur andeutet, dass es religiösen oder geistlichen Missbrauch auch unter ultraorthodoxen Juden gibt. Und zwar genau dort, wo das Einhalten bestimmter Regeln zu gravierenden Konsequenzen führt. Zum Beispiel zum Verstoss aus der Familie (Quelle: https://www.zeit.de/campus/2013/06/israel-orthodox-studium/seite-2?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F)

 

Wer mir dabei am meisten leid tut, sind die Aussteiger des ultraorthodoxen Judentums, denn das sind die, die wirkliche Diskriminierung erfahren in unserer Gesellschaft. Wir messen hier leider mit zweierlei Mass. Bei den ultraorthodoxen Juden wollen wir tolerant sein! Leben und leben lassen. Und das hat für Menschen, die aus solchen Systemen ausbrechen wollen, fatale Folgen!

 

Schade, dass Denkende und Forschende und Mutige so rar sind! Schade, dass so wenige fähig sind zu differenzieren und ein bisschen nachzuforschen, bevor die Keulen geschwungen werden. Schade, dass die Öffentlichkeit in diesem Fall einfach nur zwei Schlagworte wahrnimmt: «Juden» und «rückständig» und dann im Anschluss die Antisemiten-Keule auspackt, weil sie sich ihre eigene, bekannte Story auftischen will, statt vorwärts zu gehen und Dinge aus einer anderen Perspektive sehen zu WOLLEN.

 

Darf man ultraorthodoxe Juden denn nun als rückständig bezeichnen? Wenn wir alle gleich behandeln wollen, dann müssen wir das sogar!

 

 

 

 

Natalie Barth schreibt für den Blog www.nataliesdiary.com, auf dem es viele Artikel zu allen möglichen Themen auch zum Anhören gibt. Ausserdem betreibt sie den Aufklärungskanal auf YouTube «Natalie Barth – Die Sekte und das Leben danach». 

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