DMZ – Natalie Barth ¦
KOLUMNE
„Wer nur ein Extrem kritisiert, das andere nicht,
ist selber ein Extremist.“
(Stefan Fleischer)
Es gibt etwas, das mich ganz furchtbar an anderen nervt: Oberlehrerhaftes Getue. Der erhobene Zeigefinger. Moralische Predigten. Das Deklarieren von „richtig“ und „falsch“ und „wahr“ und „unwahr“. Als ob es nicht einen leisen Zweifel an der eigenen Wahrheit gäbe.
Das begegnet mir immer wieder, egal zu welchem Thema. Bei Menschen im persönlichen oder beruflichen Umfeld. Bei Zeitungs-Artikeln. Bei Nachrichten. Bei Dokumentationen. Bei Videos auf sämtlichen Plattformen. Bei Social-Media Posts.
Wenn ein „Experte“ ein abgeschlossenes Studium oder gar einen Doktor-Titel vorweisen kann, dann scheint das Statement – egal zu was – besonders sinnvoll und wahr zu sein. Mir fiel das zum ersten Mal richtig krass auf, als es mit der Pandemie so richtig los ging. Plötzlich waren einerseits Leute von heute auf morgen „Experten“ für irgendwas, zu was sie einzig und allein eine Meinung hatten - und von ganz normalen Menschen zu Koryphäen erklärt wurden, weil sie einfach besonders überzeugend daherschwätzen konnten.
Und dann tauchten andererseits auch noch die tatsächlichen Experten auf, die ihr Expertenwissen allerdings nicht aus ihrem Fachgebiet (was ja durchaus wichtig und sinnvoll gewesen wäre) sondern in einem völlig anderen Gebiet, das eben NICHT ihre Expertise betraf, teilten.
Aber sie hatten einen Titel! Oder sie hatten das Fachgebiet mal in einem Semester auf der Uni besucht. Oder sie hatten mal vor langer Zeit, als sie noch nicht in Rente waren, etwas auf diesem Gebiet erforscht oder gelehrt (als ob die Welt inzwischen stehen geblieben wäre….). Und da muss dann schon stimmen, was sie zu sagen haben – egal zu was!
Ja, wir zeigen schön mit dem Finger auf das Lager der Corona-Leugner, wenn es um die angeblichen Experten geht und um den offensichtlichen Extremismus in eine bestimmte Richtung. Dass dieses Phänomen aber in anderen Lagern ganz genauso zu finden ist, scheint vielen nicht klar zu sein.
Wir mögen es irgendwie, wenn da vorne ein Leithammel ist, der klare Grenzen für uns definiert.
Einer, der es einfach besser weiss als wir.
Plötzlich gibt es „Experten“ für Verschwörungstheorien, Sekten und Kulte, weil das grade aktuell und „in“ ist. Psychologie studiert? Ja, dann kann man grundsätzlich schon mal alles beurteilen, was die menschliche Psyche betrifft, egal in welchem Kontext. In den letzten Monaten begegnete mir Schwarz-Weiss-Denken hier auch ganz besonders oft. „Psychologische Experten“ definierten: Corona-Leugner = Impfverweigerer = Putin-Befürworter = Nazi und im rechten Lager. Oder: Alternativmediziner = Schulmedizinverweigerer = Wissenschaftsleugner = Sekte = Verbindungen zum 3. Reich = Judenhasser. Nur zwei von sehr vielen Beispielen. Das ist leider alles andere als seriös – Psychologiestudium hin oder her.
Oder in einem konträren Lager: Ein bischen was über Hitler und das 3. Reich nachgelesen und sofort Parallelen zur angeblichen „Corona-Diktatur“ entdeckt? Ja, da wird man schon mal schnell zu einer modernen Sophie Scholl und darf sich als heldenhafte Märtyrerin hinstellen.
Oder noch ein ganz ganz anderes Lager: Seit kurzem selbständig geworden, vielleicht als Coach? Ja klar, dann ist doch logisch, dass man nach ein paar Monaten Selbständigkeit gleich andere berät und ihnen erklärt, wie das ganze zu funktionieren hat. Und bietet DIE EINE Lösung an, die auf alle passt. Für sehr viel Geld natürlich. Und wer dann scheitert, ist selbst schuld, weil er sich nicht haarklein an den „Experten-Rat“ hielt. Schwarz-Weiss. Friss oder stirb.
Die Liste lässt sich fortsetzen. Beinahe unendlich und in allen Themen sowie in allen Pros und Kontras zu jedem Thema, das es so geben mag.
Und warum ist das so? Weil wir Menschen nunmal so ticken. Wir sind erstens evolutionär bedingt Schwarz-Weiss-Denker. Unser Gehirn bevorzugt klare Linien. Nicht so blödes Bunt, dessen Farben wie im Regenbogen ineinander überfliessen und man gar nicht mehr die absolute Grenze zwischen den einzelnen Farben definieren kann. Ist das noch Rot? Oder doch schon Orange?
Und zweitens: Wir mögen es irgendwie, wenn da vorne ein Leithammel ist, der die klaren Grenzen für uns definiert. Der erklärt was „schwarz“ und was „weiss“ ist. Einer, der es einfach besser weiss als wir. Der wahnsinnig überzeugend auftritt. Einer, dem wir folgen können. Der uns den Weg zeigt.
Vielleicht einfach, weil wir dann nicht mehr selbst denken müssen? Die Verantwortung abgeben können?
Nur um dann oftmals festzustellen, dass meine sogenannte „Wahrheit“ nach einem leichten Perspektivenwechsel, irgendwie ein kleines bisschen unwahrer geworden ist…
Und jetzt der Hammer! Ja, ich gebe es offen und ehrlich zu: Auch bei mir selbst entdecke ich mit Erschrecken diese Tendenzen! Ich bin manchmal ein kleiner Extremist und eine – mir selbst so verhasste – Oberlehrerin. Wenn ich was für mich erkannt habe, dann vertrete ich das schon mal sehr eindrücklich.
Nur um dann oftmals festzustellen – nach kurzer oder längerer Zeit – dass meine sogenannte „Wahrheit“ nach einem leichten Perspektivenwechsel, irgendwie ein kleines bisschen unwahrer geworden ist. Oder um ein paar unerwartete Facetten reicher.
Aber das war - und ist - ein Lernprozess. Und die Pandemie der letzten 2,5 Jahre hatte bei mir da einen nicht unwesentlichen Anteil an diesem langsamen Umdenken. Es gibt nicht nur Schwarz und Weiss. Es gibt nicht nur Corona-Leugner und Querdenker auf der einen Seite und auf der anderen die „Denkenden“, die sich an alle Massnahmen halten (so dachte ich tatsächlich eine ganze Weile).
Es gibt nicht nur gefährliche Verschwörungstheoretiker und die Rationalen, die alles ganz klar beurteilen können. Es gibt nicht nur rechte Nazis und linke „Gutmenschen“. Rastas und Dreadlocks machen einen Weissen nicht automatisch zu einem unsensiblen Kulturmissbrauchenden. Und auch das, was als wahr, richtig, falsch, gut, schlecht, normal, unnormal, gefährlich, gesund etc. bezeichnet wird, ist nicht per se genau so, nur weil ein „Experte“ mit oder ohne Titel es dazu deklariert.
Wir lassen uns allzu oft täuschen von Menschen, die etwas überzeugend, mitreissend und charismatisch erklären. Und schenken denen, die echtes Expertenwissen und jahrelange Erfahrung haben, wenig Beachtung, wenn sie uns nicht „heldenhaft“ genug auftreten, sondern etwas verschroben und schüchtern oder in Gestalt eines Nerds. Und ganz ganz ungern wollen wir mehrere Meinungen nebeneinander existieren lassen. Entweder Schwarz oder Weiss bitteschön! Aber auf keinen Fall bunt. Und wenn bunt, dann höchstens klar abgegrenztes und definiertes Rot, Grün, Blau, Orange und Gelb.
Leider – oder zum Glück - gibt es nicht nur Schwarz und Weiss. Sondern einen grossen bunten, ineinander überfliessenden Brei. Aber genau damit tun wir uns – wie gesagt - alle schwer. Wer das – und damit sich selbst - in der Tiefe verstehen möchte, dem empfehle ich das Buch
„Schwarz. Weiß. Denken!: Warum wir ticken, wie wir ticken, und wie uns die Evolution manipulierbar macht» von Kevin Dutton.
Natalie Barth schreibt für den Blog www.nataliesdiary.com, auf dem es viele Artikel zu allen möglichen Themen auch zum Anhören gibt. Ausserdem betreibt sie den Aufklärungskanal auf YouTube «Natalie Barth – Die Sekte und das Leben danach».
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