DMZ – Natalie Barth ¦
KOLUMNE
«Jedes Ende, jede Radikalität und jede unruhige Bewegung kann der Neuanfang von etwas sein. Wir sollten diese Bewegung zur Veränderung nutzen, denn auf sie kommt es an, hier und jetzt.» (Klara Charlotte Zeitz in der ZEIT)
Natalität - Bisher kannte ich diesen Begriff gar nicht. Ich las ihn zum ersten Mal in einem Online-Artikel über das Glücklichsein: „Hannah Arendt betitelte diesen Neuanfang eines Menschens mit dem Wort Natalität. Jedes Ende, jede Radikalität und jede unruhige Bewegung kann der Neuanfang von etwas sein. Wir sollten diese Bewegung zur Veränderung nutzen, denn auf sie kommt es an, hier und jetzt.“ (1)
Mein Name – Natalie - bedeutet eigentlich „Die zu Weihnachten Geborene“.
Damit konnte ich noch nie etwas anfangen. Schon allein deshalb, weil wir als Zeugen Jehovas (die Sekte in der ich aufwuchs) niemals Weihnachten feiern durften. Irgendwie ironisch.
Was hatten sich meine Eltern nur dabei gedacht?
Und dann stieß ich vor ein paar Tagen auf diesen Begriff „Natalität“, der nicht nur in der Medizin als Gegenstück zur Mortalität verstanden wird, sondern von Hannah Arendt auch philosophisch verwendet wurde. Ich habe versucht, mich ein wenig durch das philosophische Wirrwar zu kämpfen, das mir zu diesem Begriff im Netz geboten wurde und habe folgendes gefunden, was für mich halbwegs verständlich war - nämlich, dass «Natalität, ebenso wie die Mortalität, als eine Grundstruktur des Daseins begriffen werden muss, die in sich die Verantwortungsübernahme sowohl zur Gestaltung der eigenen Existenz wie auch der gemeinsam geteilten Welt beschließt.» (2)
«Verantwortungsübernahme zur Gestaltung der eigenen Existenz wie auch der gemeinsam geteilten Welt» - Wow! Was für eine Aussage, oder? ICH habe die Verantwortung, meine Existenz zu gestalten. Und ICH habe die Verantwortung die gemeinsam geteilte Welt zu gestalten. Egal, was auch immer mir passierte, wie schrecklich die Ereignisse waren, wie sehr ich in der Vergangenheit vielleicht auch zum Opfer gemacht wurde mit Null Handlungsspielraum!
Geburt und Tod.
Anfang und Ende.
Das eine gibt es nicht ohne das andere.
Und im Laufe des Lebens wird es immer wieder ein «Sterben» und ein «Wiedergeboren» geben, auch im übertragenen Sinn.
Das Leben verläuft in Phasen.
Oder in Wellen.
Veränderung scheint die einzige Konstante zu sein.
Aber nur, wenn ich das Wiederaufstehen als eine Chance zur Verantwortungsübernahme und Handlung sehe, hat es überhaupt einen Sinn.
Es gibt Zeiten, in denen das Leben komplett auf dem Kopf steht. Es fühlt sich an, als ob kein Stein mehr auf dem anderen liegen würde. Das Chaos scheint sich über einem zu ergiessen, wie meterhohe Wellen, die über einem Surfer zusammenbrechen.
Egal wie auch immer man heissen mag und ob der Name etwas «Wirkliches» bedeutet oder nicht: Es gibt Zeiten, in denen das Leben komplett auf dem Kopf steht. Es fühlt sich an, als ob kein Stein mehr auf dem anderen liegen würde. Das Chaos scheint sich über einem zu ergiessen, wie meterhohe Wellen, die über einer Surferin zusammenbrechen. Dieses Bild habe ich vor Augen, wenn ich an so manche Situation meines Lebens denke.
Und diese Situationen kehren wieder.
Und wieder.
Grenzsituationen
Grenzsituationen. Gegebenheiten, die uns existenziell herausfordern. Für manch einen sind es die kollektiven Erfahrungen, wie die der Pandemie oder eines Krieges mit all ihren Folgen. Für andere sind es ganz persönliche Schicksalsschläge, die das Leben auf eine harte Probe stellen, wie Schulden und finanzieller Ruin, der Tod eines Angehörigen, eine Trennung, eine chronische oder sogar lebensbedrohliche Krankheit usw. Und für so manche ist es die Mischung aus beidem: Kollektiv und persönlich mit einer ganzen Ansammlung von bedrohlichen Ereignissen.
"Der Mensch… muss JA sagen zum Tod und zum Leiden, zum Kampf, zur Schuld und zum Schicksal. Tut er dies in allem Ernste, dann kann es geschehen, daß er eben im Aushalten der Grenzsituationen zu seiner eigentlichen Existenz gelangt. Wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituation offenen Auges eintreten." (Philosoph Karl Jaspers zum «fruchtbaren Scheitern»).
Auch ich lebe im Umbruch.
Es gibt immer wieder einen Neuanfang, fast wie eine neue Geburt.
Schmerzhaft zum Teil.
Sehr schmerzhaft.Und doch sind es die Grenzerfahrungen, die uns oft zu dem machen oder das herausholen, was wir wirklich sind. Uns unsere Stärken bewusst werden lassen.
So geht es mir zumindest. Jedes Ende ist der Anfang von etwas Neuem. Auch wenn das in dem Moment, wenn alles auseinanderzubrechen scheint, nicht leicht zu sehen und vor allem schwer zu ertragen ist.
Mir gefällt dieses Wort „Natalität“. Ich interpretiere meinen Namen um, denn irgendwie passt das viel besser als dieser „Weihnachtsgeborene-Mist“.
Eigentlich könnte es schon fast die Überschrift meines Lebens sein.
Und eigentlich auch nicht nur meines Lebens, sondern das eines jeden, oder nicht?
Ich habe nur nie richtig verstanden, dieses Chaos, dieses Ende von irgendetwas als etwas Gutes zu sehen. Und vollkommen Ja zu etwas zu sagen, das meiner Kontrolle völlig entgleitet.
Annehmen und mich hineinfallen lassen.
Loslassen und keinen Widerstand mehr leisten.
Hingeben in die Situation.
Einlassen mit Haut und Haaren.
Auf eine Art zu «sterben», damit ich wiedergeboren werden kann, ist die Grundvoraussetzung für das, was danach kommen wird: Natalität – Der Anfang allen Handelns. Nachdem die Wellen über der Surferin zusammengebrochen sind und sie vom Surfbrett katapultierten, hat sie sich wieder gefangen. Sie schwimmt zu ihrem Brett, stellt sich drauf und nimmt die nächste Welle.
Übernimmt in vollem Umfang ihre persönliche Verantwortung.
Um die Erfahrung des Scheiterns reicher.
Und klüger.
Und selbstbewusster.
Quellenangaben:
- https://www.zeit.de/kultur/2020-07/schicksalsschlaege-todesfaelle-familie-angehoerige-tod-trauer-bewaeltigung/komplettansicht
- https://elib.uni-stuttgart.de/handle/11682/9857
Natalie Barth schreibt für den Blog www.nataliesdiary.com, auf dem es viele Artikel zu allen möglichen Themen auch zum Anhören gibt. Ausserdem betreibt sie den Aufklärungskanal auf YouTube «Natalie Barth – Die Sekte und das Leben danach».
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