DMZ – GESELLSCHAFT/SOZIALES ¦ David Aebischer ¦
Die vermeintlich reiche Schweiz hat grosse Probleme in vielen Bereichen, wie Bildung, Gesundheitssystem, Sozialen Einrichtungen und Altersvorsorge. Vor allem ist es aber die Armut, die sofort ins Auge fällt, wenn man sich die Zahlen des Bundesamtes für Statistik anschaut. Jede zwölfte Person in der Schweiz gilt als arm und jede sechste ist armutsgefährdet (auch bereits vor der Corona-Pandemie). Auch der vielzitierte Begriff „Mittelschicht“ täuscht eine finanzielle Zugehörigkeit in der Mitte der Gesellschaft bloss vor. Denn betrachtet man die Einkommen realistisch, zeigt sich schnell, dass viele, die zur Mittelschicht gezählt werden, eigentlich arm sind.
Laut Caritas Schweiz wächst die Armut in der Schweiz seit 2014 kontinuierlich an. In ihrem ihrem Positionspapier „Wenn das Geld kaum zum Leben reicht“ betont die Caritas zudem, dass in der Schweiz auch viele Menschen in Haushalten leben, „deren Einkommen nur knapp über der Armutsgrenze liegt. Sie gelten nicht als arm, haben aber ebenfalls kaum genug Geld zum Leben“.
Die Caritas findet: „Diese Situation ist untragbar. Wir müssen handeln. Denn eine Schweiz ohne Armut ist möglich!“ Das findet auch die DMZ und unterstützt deshalb den wichtigen Appell der Caritas „Appell für eine Schweiz ohne Armut“. Unterzeichnen Sie jetzt den Appell der Caritas an Wirtschaft und Politik!
Die neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen erneut gnadenlos auf, dass das Problem der Armut in der Schweiz komplett unterschätzt wird. Dabei kann man schneller als erwartet selber in Armut geraten. Eine Scheidung ist längst nicht „nur“ für alleinerziehende Mütter ein Armutsrisiko, sondern beinahe genauso oft werden auch Männer in den Ruin getrieben. Viele Männer müssen (zu)viel Unterhalt zahlen, sodass ihnen am Ende selber zu wenig zum Leben bleibt. Schulden und Betreibungen häufen sich schneller an, als man denkt. Schon ist man arm und stellt auch erst in diesem Moment fest, wie schlecht es in der Schweiz um das Soziale „System“ steht. Viele betroffene Frauen und Männer brechen unter der psychischen Belastung zusammen und werden krankgeschrieben, oder fallen komplett aus. Es gibt immer mehr Arme und die soziale Ungleichheit verfestigt sich, während gleichzeitig die obere Hälfte der Bevölkerung über 90 Prozent des Gesamtvermögens besitzt. Wer einmal arm ist, hat kaum eine Chance, den sozialen Aufstieg zu schaffen. Näher an der Realität: Einmal arm, immer arm.
Soziale Spaltung
Auch der Sozialabbau der vergangenen Jahre macht sich immer mehr bemerkbar, was Alleinerziehende und ihre Kinder, Wohnungslose, Menschen mit Migrationshintergrund und – durch Gesundheitsreformen und hohe Zuzahlungen – wieder verstärkt Alte, Kranke und Menschen mit Behinderung noch mehr gefährdet. Häufig kommen gleich mehrere Belastungen zusammen, wie geringes Einkommen, ungesicherte Wohnverhältnisse, Krankheit, psychische Probleme, mangelnde Ausbildung und soziale Ausgrenzung. In der Schweiz sind also viel mehr Menschen von Armut betroffen, als die meisten denken. Weil viele Menschen kaum Geldsorgen haben, geht das aber oft vergessen. Armut und die soziale Frage ist das grosse Querschnittsproblem der Gesellschaft und allgegenwärtig. Heute noch weit weg, kann man morgen bereits tief drin stecken, im System des Schreckens.
„Bereits vor Corona war jede sechste Person in der Schweiz (1,3 Millionen Menschen) von Armut betroffen oder lebte nur knapp über der Armutsgrenze. Es gibt immer mehr Menschen, die ihre Existenz mit Erwerbsarbeit nicht mehr sichern können – sie finden entweder gar keine Stelle oder arbeiten unter prekären Bedingungen mit zu tiefen Löhnen, zu kleinen Pensen und ohne soziale Absicherung.“
Caritas Schweiz
Zum Vergleich
Laut dem 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2021 leben über 13 Millionen Menschen in Deutschland in Armut oder an der Armutsgrenze.
Auch die Armut in Deutschland wächst. Einer neuen Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zufolge hat die Armutsquote in Deutschland in der Pandemie ein Rekordhoch erreicht. 16,1 Prozent der Bevölkerung - das entspricht 13,4 Millionen Menschen - müssten zu den Armen gerechnet werden, heisst es in dem Bericht mit dem Titel "Armut in der Pandemie".
Auch in Österreich gibt es Armut. Laut EU SILC 2020 sind hier 13,9 % der Bevölkerung im Jahr 2020 armutsgefährdet gewesen – das sind 1.222.000 Menschen. Laut der Armutskonferenz bedeutet das einen leichten Anstieg im Vergleich zu 13,3% im Jahr 2019.
Nach einer Studie des UN-Kinderhilfswerks UNICEF hat die Corona-Pandemie weltweit zusätzlich 100 Millionen Kinder in Armut gestürzt. Schon vor der Pandemie hatten eine Milliarde Kinder weltweit nicht ausreichend Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Unterkünften, Ernährung, sanitären Einrichtungen oder sauberem Wasser gehabt.
„Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen“ (sinngemäss aus der Präambel der Schweizer Verfassung)
Laut humanrights.ch schreibt die Schweizerische Bundesverfassung - „mit Ausnahme des Rechts auf Hilfe in Notlagen, dem Anspruch auf Grundschulunterricht und der Wirtschaftsfreiheit - keine verbindlichen und justiziablen Sozialrechte fest.“ Die meisten der durch internationale Menschenrechtsabkommen garantierten Sozialrechte seien „in der Bundesverfassung auf bloss programmatische Sozialzielbestimmungen reduziert“.
Art. 41: „(1) Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein, dass: [...]
(b) jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält; [...]
(2) Bund und Kantone setzen sich dafür ein, dass jede Person gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Invalidität, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, Verwaisung und Verwitwung
gesichert ist.
(3) Sie streben die Sozialziele im Rahmen ihrer verfassungsmässigen Zuständigkeiten und ihrer verfügbaren Mittel an.
(4) Aus den Sozialzielen können keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden.“
„Die Corona-Krise hat die Armut in der Schweiz sichtbar gemacht und verschärft“
Caritas Schweiz führt in ihrem Appell aus, dass es „immer mehr Menschen gibt, die ihre Existenz mit Erwerbsarbeit nicht mehr sichern können – sie finden entweder gar keine Stelle oder arbeiten unter prekären Bedingungen mit zu tiefen Löhnen, zu kleinen Pensen und ohne soziale Absicherung.“ Auch für die steigenden Wohnkosten und Krankenkassenprämien reiche das Haushaltsbudget nicht mehr aus. Sogar der Zugang zu Bildung und Weiterbildung – „eine grundlegende Voraussetzung, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können“ – sei in der Schweiz nicht für alle gewährt.
Appell für eine Schweiz ohne Armut
Bisher haben 4161 Personen den Appell der Caritas Schweiz unterschrieben, mit welchem die Politik und Wirtschaft aufgefordert wird, allen Menschen in der Schweiz ein Leben in Würde und sozialer Sicherheit zu garantieren.
Sechs Forderungen – ein Ziel
Der Appell der Caritas stellt klar: „Wir müssen der wachsenden Ungleichheit mit konkreten Massnahmen entgegentreten. Das fordern wir:
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Würdige Arbeit: mit existenzsichernden Löhnen und Arbeitsmodellen, familienfreundlichen Arbeitszeiten und sozialer Sicherheit
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Gleiche Bildungschancen: ein schrankenloser Zugang zu Nachholbildung, Weiterbildungen und Umschulungen
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Gleiche Möglichkeiten für alle Familien: ein lückenloses, qualitativ gutes und bezahlbares Angebot an familienergänzender Kinderbetreuung
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Ein barrierefreies Gesundheitssystem: eine deutliche Reduktion der Belastung durch Krankenkassenprämien für Haushalte mit tiefen Einkommen und eine gleichwertige Gesundheitsversorgung
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Existenzsicherung: Ergänzungsleistungen für alle Menschen, deren Einkommen nicht für den Lebensunterhalt reicht, sowie die Abschaffung der rechtlichen Verknüpfung von Aufenthaltsstatus und Existenzsicherung
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Bezahlbarer Wohnraum: preisgünstiger Wohnraum und Unterstützungsangebote für die Wohnungssuche für Haushalte mit tiefem Einkommen“
Weil sehr viele Tatsachen im Zusammenhang mit der Armut in der Schweiz bei einem Grossteil der Bevölkerung immer noch nicht angekommen sind, fragten wir bei der Caritas Schweiz nach, wie es um die Armutspolitik in der Schweiz steht:
„Vorausschauende Armutspolitik braucht nachhaltige Armutsprävention
Unser Ziel als Gesellschaft muss sein, Armutsrisiken zu verringern und damit zu verhindern, dass Menschen überhaupt in Armut geraten. Die Erfahrung der Armutsbetroffenheit ist oft mit viel Leid und persönlichen Krisen, mit gesellschaftlicher Ausgrenzung und einem Gefühl der Ohnmacht verbunden. Und wer einmal in Armut geraten ist, kann ihr nur mit grosser Mühe wieder entkommen. In der Schweiz ist jedes fünfte Kind armutsgefährdet. Das ist besonders dramatisch. Denn Armut verfestigt sich häufig über Generationen hinweg. Kinder, die in prekären Verhältnissen aufwachsen, haben ein grosses Risiko, auch als Erwachsene von Armut betroffen zu sein.
Im Zentrum einer vorausschauenden Armutspolitik steht die Armutsprävention. Das bedeutet in erster Linie, die strukturellen Ursachen von Armut zu beseitigen. Denn Armut ist grösstenteils eine Folge von ungünstigen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie teurer Kinderbetreuung, prekärer Arbeitsverhältnisse, fehlender Chancengleichheit im Bildungssystem, teurer Wohnungsmieten, Sparmassnahmen bei Sozialversicherungen sowie kantonalen Steuersystemen, die hohe Einkommen und Vermögen begünstigen. In den vergangenen Jahren haben Bund, Kantone und Gemeinden zu wenig Anstrengungen unternommen, um diese Rahmenbedingungen zu verbessern. Ein gutes Beispiel sind die Prämienverbilligungen: Während die Krankenkassenprämien im vergangenen Jahrzehnt stetig stiegen, wurden die ordentlichen Prämienverbilligungen in vielen Kantonen abgebaut. Gesamtschweizerisch ist die Prämienbelastung für einkommensschwache Haushalte deshalb deutlich gestiegen. Neben der Wohnungsmiete sind die Krankenkassenprämien der grösste Budgetposten für Haushalte mit wenig Geld.
Armutsbekämpfung und Armutsprävention sind Verfassungsauftrag: Die Schweizerische Bundesverfassung hält fest, dass alle Menschen in der Schweiz Anspruch auf Hilfe und Unterstützung haben, wenn sie in Not geraten (Artikel 12). Und Artikel 41 verpflichtet Bund und Kantone, sich dafür einzusetzen, dass die soziale Sicherheit aller Menschen gewährleistet ist, dass alle Arbeit zu angemessenen Bedingungen leisten können, Familien und Kinder geschützt und gefördert werden, alle mit Wohnraum versorgt sind, Junge sich bilden und Erwerbsfähige sich weiterbilden können.
Trotzdem gibt es bis heute gesamtschweizerisch keine konkreten Ziele in der Armutsprävention und -bekämpfung. Caritas fordert seit Jahren, dass Bund, Kantone, Gemeinden, die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft in der Armutspolitik an einem Strick ziehen und sich auf messbare Ziele und entsprechende Massnahmen verpflichten. Und dass die Datenlage zu Armut in der Schweiz dringend verbessert werden muss. Denn verlässliche Daten sind eine unabdingbare Grundlage für eine wirksame und nachhaltige Armutspolitik. Dabei sind namentlich die Kantone gefordert – auch und gerade im Hinblick auf die vom Bund beschlossene Einrichtung eines nationalen Armutsmonitorings ab 2025. Die Kantone verfügen über die erforderlichen Datengrundlagen und die Armutsbekämpfung liegt hauptsächlich in ihrer Verantwortung. Zudem bestehen gerade im Bereich der Existenzsicherung und der Leistungen für Familien grosse Unterschiede zwischen den Kantonen. Caritas hat vor zwei Jahren gemeinsam mit Forschenden der Berner Fachhochschule ein Modell für ein kantonales Armutsmonitoring entwickelt, das von allen Kantonen ohne grossen Aufwand umgesetzt werden kann. Einzelne Kantone haben bereits begonnen, ein Monitoring nach diesem Modell aufzubauen. Das ist erfreulich.
Caritas wird sich weiterhin auf allen Ebenen für eine Schweiz einsetzen, in der alle Menschen genügend Mittel und die gleichen Chancen haben, ihr Leben aktiv zu gestalten und an der Gesellschaft teilzuhaben.“
Aline Masé, Leiterin Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz
Caritas Schweiz
Gemeinsam mit dem Netz der Regionalen Caritas-Organisationen setzt sich Caritas Schweiz ein für Menschen, die in der reichen Schweiz von Armut betroffen sind: Familien, Alleinerziehende, Arbeitslose, Working Poor. Caritas betreut Asylsuchende sowie Flüchtlinge und leistet Rechtsberatung. Zudem vermittelt sie Freiwillige für soziale Einsätze.
Weltweit leistet Caritas Nothilfe bei Katastrophen und engagiert sich im Wiederaufbau. Mit ihren Projekten in der Entwicklungszusammenarbeit setzt sich die Caritas in den Bereichen Einkommen, Klima und Migration für Kinder und Erwachsene ein.
Caritas Schweiz ist ein eigenständiger Verein mit Sitz in Luzern. Das Hilfswerk ist Mitglied des internationalen Caritas-Netzwerks. Dieses umfasst weltweit Organisationen in 165 Ländern.
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