DMZ – GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Natalie Barth ¦
KOMMENTAR
Ach wie schnell sind wir doch alle dabei, mit dem Finger auf andere zu zeigen, die unserer Meinung nach moralisch total neben der Spur sind. Wir glauben, wir müssten richten und richtigstellen. Wir denken, dass unsere Sicht der Dinge dem entspricht, was korrekt ist und dass alle anderen genau so handeln, denken und am besten noch fühlen müssten. Kaum vorstellbar, dass man gewisse Dinge auch ganz anders sehen oder vielleicht sogar komplett konträr leben kann, als dies gesellschaftlich oder speziell im eigenen Umfeld akzeptiert wird.
Was soll Moral überhaupt sein? Ist sie allgemeingültig? Wer definiert, was moralisch ist und was nicht?
Zunächst machen wir einen kleinen Ausflug in eine Welt, in der der Begriff «Moral» auf extreme Art ausgelegt und -gelebt wird. Wenn man wie ich in einer christlichen Sekte aufgewachsen ist, dann wird einem von klein auf vollkommen klar und bis ins letzte Detail des Lebens vordefiniert, was moralisch einwandfrei oder moralisch verwerflich ist. Grossen persönlichen Interpretationsspielraum gibt es da nicht.
Für mich als damalige Zeugin Jehovas war viele Jahre lang klar, dass Sex vor der Ehe, Selbstbefriedigung, Scheidung, Homosexualität, Polygamie etc. in höchstem Masse unmoralisch sind. Ja, der Begriff «Moral» wurde bei uns hauptsächlich mit einem in sexueller Hinsicht angeblich «einwandfreiem» Leben in Verbindung gebracht. Die «Sittenmassstäbe» der Bibel in Bezug auf Sex waren das Non-Plus-Ultra. Und wer dagegen verstiess, der konnte aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Die meisten dieser Ausschlüsse aus der Gemeinde waren wohl in sexuellem «Fehlverhalten» begründet.
Das finde ich im Nachhinein sehr bemerkenswert. Denn theoretisch schloss ein moralisches Leben bei den Zeugen Jehovas natürlich viel mehr ein: Nicht zu stehlen, nicht zu betrügen, nicht zu töten, einem Hilfesuchenden helfen, anderen Gutes tun, niemanden schädigen, Mitgefühl haben. Dinge, die auch in der übrigen Welt, ausserhalb der Sekte in vielen Kulturen als moralisch angesehen werden. Nur diese «Sex-Sünde» wog um ein Vielfaches mehr als alles andere. Die Anzahl der Anweisungen, Artikel und Ansprachen dazu überstiegen meinem Empfinden nach die anderen Punkte unverhältnismässig. Der Fokus lag tatsächlich hauptsächlich auf Sex. Auf «falschem» Sex wohlgemerkt.
Das ging sogar soweit, dass es galt, sämtliche Spielfilme, Musik, Musikvideos und Literatur zu meiden, in denen diese «Unmoral» vorkam oder angedeutet wurde. Damit man auch ja nicht auf falsche Gedanken kam! Ich erinnere mich an Zeiten aus meiner Jugend, in denen ich sehr viel Zeit mit meiner Cousine verbrachte. Wenn ich dort übernachtete, sahen ihr Mann, sie und ich uns am Abend oft einen Spielfilm aus der Videothek an (gibt es heute eigentlich noch Videotheken??). Wenn in solchen Filmen Sexszenen vorkamen oder (noch schlimmer) zwei Homosexuelle sich küssten, dann wurde diese Stelle kommentarlos und etwas beschämt vorgespult. Denn wir wussten in dem Moment: Jehova (der Gott, den wir anbeteten) sah einfach alles! Und sich mit so etwas «Abartigem» zu beschäftigen, fand er total widerlich.
Gesellschaftsfähige Lynchjustiz
Nun wächst natürlich nicht jeder in einer sektenartigen Gruppe auf. Die Frage, ob jemand moralisch handelt, ist dennoch etwas, was die Gemüter in unserer Gesellschaft immer wieder erhitzt. Menschen werden be- und verurteilt, wenn sie sich nicht so verhalten, wie es ein Teil der Gesellschaft als «richtig» empfindet. Das passiert inzwischen sowohl auf eine neue Art und Weise sowie schneller, seit es Internet und die Möglichkeit für anonymes Mobbing und gesellschaftsfähige Lynchmobs und Lynchjustiz gibt.
Was das ist? Ich beschreibe es mal so, wie ich es empfinde, wenn ich sehe, wie Menschen an den Pranger gestellt, beschimpft, gemobbt und verurteilt werden, bevor auch nur ein einziges offiziell gültiges Urteil eines Gerichts zustande gekommen bzw. bewiesen ist, dass das anscheinend Verurteilenswerte überhaupt in der Realität so stattgefunden hat. Und manchmal geht es nicht einmal um eine wirkliche Straftat, sondern nur darum, was gewisse Gesellschaftsgruppen als angemessen oder moralisch ansehen:
«Feige Wohnzimmer-Couch-Potatoes, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen, erheben den Zeigefinger und profilieren sich darüber, dass sie sich als Moralisten über andere erheben. So fühlen sie sich nicht mehr ganz so armselig, weil gerade jemand, der Erfolg im Leben hat oder der in der Öffentlichkeit steht und wirklich was geleistet hat (im Gegensatz zu ihnen) nun am Pranger steht:
“Sehr her, was für ein böser Mensch, was für ein Heuchler,…. “
Das Mittelalter lässt grüssen.
Was ist Moral?
Die Frage, was Moral aber eigentlich ist oder bedeutet und wie sie zustande kommt, ist sehr interessant und so einfach gar nicht zu beantworten. Sie wird in der Moralpsychologie und der Moralphilosophie (Ethik) erforscht. Es wird dort versucht zu definieren, wie Moral zustande kommt bzw. was sie ausmacht.
Ganz einfach erklärt: «Als Moral werden die Werte und Regeln bezeichnet, die in einer Gesellschaft allgemein anerkannt sind. Wenn man sagt, jemand hat „moralisch“ gehandelt, ist damit gemeint, dass er sich so verhalten hat, wie es die Menschen richtig und gut finden.» (Quelle: BPB-Lexikon)
Dass sich das, was in einer Gesellschaft als «moralisch» gilt schon öfter geändert oder verschoben hat, wissen wir alle. Als Unverheiratete zusammenzuleben oder gar einfach nur ein Zimmer in einem Hotel zu buchen, galt auch in unserer Kultur, in unseren Breitengraden einmal als in höchstem Masse unmoralisch und sogar strafbar! Genauso wie Homosexualität. Und das ist noch gar nicht so lange her: Erst in den 1970er Jahren wurde ein neues Sexualstrafrecht in Deutschland beschlossen. Was zwei erwachsene Menschen im Bett miteinander treiben, interessiert seitdem keinen Staatsanwalt mehr. Der berüchtigte Paragraph 175 (StGB), in dem die Verfolgung von homosexuellen und bisexuellen Männern legitimiert wurde, ist tatsächlich erst 1994 abgeschafft worden!
Wie man an dem Beispiel von christlichen Sekten wie den Zeugen Jehovas sieht, kann es innerhalb einer Gesellschaft unterschiedliche Moralvorstellungen geben, je nachdem in welchen Untergruppen oder in was für einem Umfeld man sich bewegt. Darüberhinaus ist das, was als moralisch oder unmoralisch gilt, auch von der Region abhängig: «andere Länder – andere Sitten» - und somit andere Interpretationen von Moral.
Haben religiöse Menschen eine bessere Moral?
Ganz allgemein gilt bei religiösen Menschen der Glaube als Richtschnur für Moral. Und das legt den Umkehrschluss nahe, dass nichtreligiöse Menschen weniger moralisch handeln würden. Machen religiöse Überzeugungen und Praktiken uns wirklich zu besseren Menschen? Dieses Vorurteil ist tatsächlich weit verbreitet, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. Eine neuere Studie zeigt, dass vor allem in vielen europäischen Ländern ein eher geringerer Prozentsatz der Bevölkerung den Glauben an Gott mit moralischerem Handeln in Verbindung bringt, während in anderen Teilen der Welt die Quote bei über 90% liegt. Warum in manchen Ländern das Vorurteil ausgeprägter ist, hängt wohl von vielen Faktoren ab, beispielsweise von wirtschaftlicher Entwicklung, Bruttosozialprodukt, Zugang zu Bildung und der demografischen Entwicklung der verschiedenen Regionen.
"Viele religiöse Menschen finden es schwer vorstellbar, wie jemand ohne Religion gut sein kann; mehr noch, sie können nicht glauben, dass er überhaupt gut sein wollen könnte", schreibt Richard Dawkins in seinem Buch "Der Gotteswahn", und fügt hinzu: "Davon ist es kurioserweise nicht weit zum Hass auf die, die ihren Glauben nicht teilen." (1)
Viele Religiöse glauben, Menschen würden sich nur dann moralisch verhalten, wenn sie entweder einen Lohn oder eine Strafe von oben für Ihr Handeln erwarten könnten und es damit nicht egal ist, welche Wahl sie treffen. Dawkins frägt deshalb: "Heißt das, wenn es Gott nicht gäbe, würden sie rauben, vergewaltigen, morden? Wenn diese Leute das wirklich meinen, sollte man ihnen aus dem Weg gehen". (2)
Für den Journalisten Robert Misik, ist es sogar eher so, dass «die Religion ein gutes Mittel ist, solche moralischen Empfindungen auszuschalten. Geschichte und Gegenwart bieten genügend Beispiele dafür, dass normale Individuen in anderen nicht den Mitmenschen, sondern den Feind sahen, sobald sie von ihm durch religiösen Eifer getrennt waren. Natürlich braucht man nicht unbedingt Religion, um Kriege vom Zaun zu brechen und andere Länder zu überfallen und zu besetzen. Aber die Religion nützt sehr, Aggression zu wecken und zu erhalten.
Sie ist ein gutes Mittel, den Unterdrückten zu einem moralisch minderwertigen Subjekt zu machen, das froh sein kann, wenn ihm die Zivilisation, der wahre Glauben oder was auch immer gebracht wird. Und Religion ist ein gutes Mittel, um dem Unterdrücker die Gewissheit zu geben, sein Handeln sei von Gott gerechtfertigt. Zudem wird Unrecht, das sich religiös begründen lässt, eher akzeptiert.» (Quelle: TAZ).
Gibt es moralische Überlegenheit überhaupt?
Bei meinen Nachforschungen bin ich leider auch an meine Grenzen gestossen, da ich weder eine Wissenschaftlerin noch eine wissenschaftliche Journalistin bin und auch nicht den Anspruch dazu erheben möchte. Zum Thema Moral gibt es so unendlich viel zu sagen und doch wiederum viel zu wenig Eindeutiges.
Und trotzdem glauben wir sehr oft, dass wir anderen moralisch überlegen sind, wenn wir uns an bestimmte Normen halten, die wir und viele andere für gut und wichtig befinden. Wir denken zum Beispiel, wenn wir den Müll trennen und die ÖV benutzen, sind wir schon mal auf der sicheren Seite und tragen unseren Teil zur Abwendung der Klimakatastrophe bei. Auf jeden Fall nehmen wir uns das Recht heraus, den Typ, der den SUV fährt und damit das Klima belastet, zu kritisieren. Sind wir damit wirklich moralisch überlegen oder fühlen wir uns nur rein subjektiv so?
Was wenn wir zwar die ÖV (Öffentlichen Verkehrsmittel) benutzen aber gleichzeitig gerne viele Avocados und andere Früchte oder Lebensmittel essen, die einen Transportweg um die halbe Welt hinter sich haben? Allein der Verzehr einer Avocado hinterlässt einen fünfmal größeren ökologischen Fußabdruck als der Verzehr einer Banane, so eine neue Studie. Auch der Zuchtlachs schneidet nicht wirklich gut ab. (Quelle: Standard.co.uk). Und was, wenn der Typ, der den SUV fährt, gleichzeigt sein Gemüse regional beim heimischen Bauern um die Ecke kauft, und zwar genau das, was saisonal wächst? Was, wenn er genau darauf achtet, keine Pflege- und Kosmetikprodukte zu kaufen, die an Tieren getestet wurden, während ich als super klimaneutraler ÖV-Nutzer darauf überhaupt nicht achte?
Wir sehen nicht immer das grosse Ganze, das einen Menschen ausmacht. Und wir haben gleichzeitig unsere eigenen blinden Flecken.
Als Aussteigerin einer Gruppe von Menschen, die sich anderen moralisch überlegen fühlte, weil sie sich an bestimmte Normen hielt (in dem Fall religiöse Normen), aber auf der anderen Seite höchst menschenunwürdige Verhaltensweisen* förderte und damit das hässliche Gesicht der Religion zeigte, ist «Moral» für mich heute ein sehr schwammiger Begriff.
Vielleicht sollten wir uns alle – ob religiös oder nicht – fragen, warum wir dazu tendieren, andere zu be- und verurteilen. Auf welcher Grundlage tun wir das? Aufgrund der Regeln und Normen, die uns von anderen in der Gesellschaft oder in unserem persönlichen Umfeld so vorgelebt werden? Leben wir heute moralischer als vor 500 Jahren? Oder leben wir in unserer westlichen Gesellschaft moralischer als in anderen Teilen der Welt?
Dass wir uns anderen moralisch überlegen fühlen, zeigen wir dadurch, dass wir ein Leben kritisieren, das unseren Standards nicht entspricht. Es lohnt sich wirklich - ich kann es nur jedem ans Herz legen - einmal diese Überzeugungen, was gut und böse, was richtig und falsch ist und wie man leben sollte oder nicht, gründlich zu hinterfragen und anderen zuzugestehen, dass jeder seine eigene Definition dazu haben darf.
Selbstkritik und Moral – wir alle moralisieren gerne
Ich empfehle jedem, sich auf den Weg zu machen und herauszufinden, wie man gerne leben möchte, ohne diese Vorgaben von Moral und Werten, die wir selbst vielleicht ganz anders definieren würden, wenn wir uns nicht von unserem Umfeld – z.B. von einem sehr religiösen Umfeld - beeinflussen lassen würden.
Ja, das ist wichtig! Wir haben die Verantwortung dafür, unser eigenes Leben glücklich zu gestalten. Niemand anders kann das für uns! Andere zu verurteilen, ihr Verhalten anzugreifen und sich in ihr Leben einzumischen, „weil man was anderes von ihnen erwartet hätte“ oder weil man glaubt, dass irgendwelche Moralvorstellungen übertreten wurden, ist eine billige Ausrede, nur um ja nicht endlich selbst Verantwortung fürs eigene Leben zu übernehmen. Und brauchen wir wirklich eine höhere oder äussere Instanz, die uns sagt, was moralisch und okay ist? Müssen wir diese angeblich alleingültige Norm auf andere übertragen und sie dementsprechend richten?
Und dennoch muss auch ich mir ehrlicherweise eingestehen, dass ich bestimmtes Verhalten als richtig oder falsch einstufe und meine Meinung darüber kundtue. Es gibt wohl kaum einen Menschen, der das nicht bei dem ein oder anderen Thema tut, das ihm wichtig ist. Vor allem wenn die Auswirkungen des Handelns nicht nur das persönliche Leben, sondern mehr Menschen, vielleicht eine ganze Gesellschaft betreffen.
Ich glaube trotzdem, dass es enorm hilfreich für uns ist, wenn wir uns selbst immer wieder in Frage stellen. Wenn wir uns bewusst sind, dass wir urteilen. Und dann, wenn wir merken, was wir da gerade tun, uns selbst fragen, ob das in der Situation wirklich gerechtfertigt ist. Oder ob wir nicht urteilen über etwas, das uns einfach nichts angeht – wenn es z.B. das private Leben eines Menschen betrifft. Ob wir vielleicht einfach nur urteilen, weil wir selbst frustriert sind und uns von Normen eingeengt fühlen. Weil wir das Leben nicht so leben, wie es uns gefällt, sondern nach den Moralvorgaben anderer Menschen. Oder ob wir einfach über etwas urteilen, das wir nicht beweisen können und somit auch nicht wissen, ob es überhaupt der Wahrheit entspricht bzw. ob wir wirklich alle Zusammenhänge verstehen.
Es lebt sich leichter und es lebt sich wesentlich zufriedener, wenn wir aufhören, Moralapostel zu spielen. Spätestens dann, wenn wir selbst eines Tages - aus welchen Gründen auch immer - unseren eigenen Standards nicht mehr gerecht werden können, werden wir erfahren müssen, wie unangenehm es ist, von anderen moralisch abgeurteilt zu werden.
Natalie Barth schreibt für den Blog www.nataliesdiary.com und betreibt den Aufklärungskanal auf YouTube «Natalie Barth – Die Sekte und das Leben danach»
(1) Richard Dawkins: "The God Delusion". London 2006, S. 211
(2) Ebd., S. 211
*z.B. das Ächten von ehemaligen Mitgliedern der Gemeinschaft, die Ablehnung von lebensrettenden Bluttransfusionen (selbst für das eigene Kind), narzisstische Manipulationstechniken oder geistlicher Missbrauch
Weitere Quellen: https://www.wissenschaft-aktuell.de/artikel/Vor_35_Jahren___Kuppelei__und_Homosexualitaet_in_der_Bundesrepublik_nicht_laenger_strafbar_1741015585023.html
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