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Straumanns Fokus am Wochenende - Transatlantische Schicksalsgemeinschaft?

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦   

KOMMENTAR

 

Über Europa hängt das Damoklesschwert eines möglichen Krieges. Keiner weiss, was aus Putins aggressivem Verhalten gegenüber der Ukraine werden soll, höchstwahrscheinlich nicht einmal er selbst. Niemand kann sagen, welche Weiterungen möglich sind und auch uns im Westen treffen könnten. In dieser Phase höchster Verunsicherung, sollte man meinen, müssten sowohl die Diplomatie der westlichen Welt ebenso wie deren Leitmedien mit Bedacht auftreten und deeskalierend wirken.

 

Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Regierung der USA und die Generäle der NATO finden, gefangen in den Mustern des Kalten Krieges, zu keiner anderen Konfliktsprache als zur geballten Faust. Und die grossen Presseorgane des Westens verurteilen als Schwäche, wenn jemand auch nur mässigend auftritt.

Dieser jemand ist die Bundesrepublik Deutschland. Olaf Scholz und Annalena Baerbock bemühen sich um Zurückhaltung und ausbalancierte Stellungnahmen. Der Kanzler und die Aussenministerin wollen der Ukraine keine Waffen liefern und sind nicht willens, die Gasröhre Nordstream 2 mir-nichts-dir-nichts aufzuwerfen. Statt dass die Medien sie hierin bestärkten, werfen sie ihnen Unentschlossenheit, mangelnden Mut und fehlende Bündnistreue vor. Rechtsbürgerliche Scharfmacher dagegen geniessen die beste Presse.

Tatsächlich ist die Steuerung der Meinungsbildung im deutschsprachigen Raum ein Ärgernis. Von der Neuen Zürcher über die Frankfurter Allgemeine und die Süddeutsche Zeitung, vom SPIEGEL über BILD und BLICK bis hin zu ARD, ZDF, SRG und ORF – alle stimmen sie ein in den Refrain vom Westen mit der weissen Weste und dem Bösewicht im Osten.

 

Gewiss: Wladimir Putin ist ein Machtmensch ohne Skrupel. Menschenrechtsverletzungen lassen ihn kalt. Er geht mit dem Völkerrecht so um, wie es ihm gerade zupasskommt. Ihm mit Nachgiebigkeit zu begegnen, würde er als Schwäche interpretieren. Das ist keine Option.

 

Aber Umsicht ist nicht Nachgiebigkeit. Die subtile Betrachtungsweise, mit der Deutschland an die gefährlichste Situation herangeht, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt, unisono als Versagen abzutun, ist auch keine Option. Zwischentöne und Gegenstimmen fehlen, weil dem Publikum noch und noch Fakten unterschlagen werden. Dazu zählen:

Erstens. Als 1989 Michael Gorbatschow der deutschen Wiedervereinigung zustimmte, willigte er ein, sämtliche russischen Truppen aus der DDR abzuziehen. Er sah zu, wie sich die NATO über Gesamtdeutschland breit machte. Er hatte im Gegenzug das Versprechen des US-Aussenministers Baker erhalten, die NATO werde sich keinen Fussbreit weiter nach Osten ausdehnen. Weil Gorbatschow darauf verzichtete, sich das Versprechen schriftlich bestätigen zu lassen, wird es seither systematisch gebrochen. Polen, Tschechien und Ungarn wurden 1999 NATO-Mitglieder, die drei baltischen Staaten, Bulgarien und Rumänien 2004, Albanien und Kroatien 2009, Montenegro 2017.

 

Zweitens. Während sich die NATO, wortbrüchig, permanent nach Osten vorgeschoben hat, löste sich der Warschauer Pakt auf.

 

Drittens. Putin wird das Recht abgestritten, im russischen Interesse «Einflusssphären» zu verlangen. Hat man vergessen, dass die gesamte amerikanische Aussenpolitik – seit James Monroe 1823 den Europäern nahelegte, die Finger von Südamerika zu lassen – auf nichts anderem aufbaut als auf einseitig definierten Einflusssphären, die man der Welt zur gefälligen Kenntnisnahme unterbreitete?

 

Viertens. Putins Forderung, die Ukraine dürfe nicht NATO-Mitglied werden, wird vom Westen zurückgewiesen, weil sie das Selbstbestimmungsrechts der Völker verletze. Haben sich die USA etwa je um das Selbstbestimmungsrecht von mittel- oder südamerikanischen Staaten oder solchen des mittleren Ostens gekümmert?

 

Fünftens. In den letzten Tagen wurde in London die These aufgeworfen, Russland könnte in Kiew einen pro-russischen Putsch vorbereiten. Hat wirklich niemand Boris Johnson (eigentlich hätte er innenpolitisch genug zu tun…) in Erinnerung gerufen, dass der letzte Regierungswechsel in der Ukraine, 2014, mit amerikanischer Unterstützung zustande kam? Damals haben die Spatzen von den Dächern des Maidan-Platzes gepfiffen, wie die Drahtzieher des Aufstands bei der US-Botschaft in Kiew ein- und ausgegangen sind.

 

Sechstens. Seit vor mehr als 100 Jahren die USA ihre geopolitischen Interessen nach Europa ausdehnten, haben sie immer wieder jede Annäherung zwischen Deutschland und Russland zu hintertreiben versucht. Teile und regiere! Eine mögliche Annäherung zwischen Deutschland und Russland würde zu einem so starken Machtfaktor in Europa, dass die amerikanischen Interessen auf der Strecke blieben.

All dies weiss die deutsche Regierung. Und sie weiss auch, worum es der NATO wirklich geht: Darum, dass jeder Erweiterungsschritt der amerikanischen Rüstungsindustrie dient. Soll sie sich diesen Aspekten des transatlantischen Verhältnisses blind unterwerfen? Es nicht zu tun, ist ihre Pflicht. Seien wir froh, dass sie diese wahrnimmt.

 

Und wir wären froh, wenn die Kommentatoren der westlichen Leitmedien ihre Aufgabe ebenso ernst nähmen. Wenn sie endlich aufhörten, die Welt nur durch die Brille von Stars und Stripes zu sehen. Aber sobald es um geopolitische Ansprüche der USA geht, mutiert der Chor der westlichen Leitmedien zur transatlantischen Schicksalsgemeinschaft. Lassen wir einmal offen, ob es eine solche gibt. Definitiv falsch ist, sie mit den Interessen der amerikanischen Rüstungsindustrie zu verwechseln. 

 

 

 

 

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Seit einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.  


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