hat der Mittelständler eine Bewertung von einer
Billion erreicht.
DMZ – WIRTSCHAFT ¦ Dirk Specht ¦
KOMMENTAR
Ich kann nur hoffen, dass viele Kommentare zur Geld-, Wirtschafts- und Klimapolitik in SocialMedia nicht repräsentativ sind. Sonst hätte Deutschland ein Wahrnehmungsdefizit, das uns gefährlich werden kann.
Noch vor wenigen Wochen kommentierte bei mir per PM ein Vertreter aus dem mittleren Management der deutschen Automobilindustrie, Tesla sei ein mittelständischer Elektroautohersteller mit unterdurchschnittlicher Fertigungskompetenz. Nun, inzwischen
Nebenbei bemerkt halte ich die chinesische BYD für viel spannender und die Bewertung von Tesla wäre mir für ein Investment zu hoch. Aber dagegen sind die deutschen Konzerne leider inzwischen wirklich mittelständisch bewertet – und die sind bekanntlich nur die Spitze der ganzen Industrie. Wir haben ein erkennbares Problem und das sollten wir endlich wahrnehmen, statt das Verbrennerliedchen weiter zu singen, ein Tempolimit aus Marketinggründen abzulehnen und die Reichweite von E-Autos zu bemängeln. Diese Debatte passt nicht in die Zeit – weder ökonomisch, noch ökologisch. Die Fokussierung einer unserer Schlüsselindustrien ist von der Technologie (Diesel&Co) bis zu den Produktkompetenzen (Größe, Gewicht, Leistung) nicht mehr zukunftsfähig. Die großen Märkte verlangen – und das viel schneller als gedacht – nach ganz anderen Lösungen. Der “Geschmack” des Kunden in Deutschland ist nicht der Markt, unsere Debatte ist gegenstandslos.
Gestern lief dann der Zeit-Beitrag von Stiglitz zur beabsichtigten Lindner-Politik durch. Seit Tagen ferner der Rücktritt von Weidmann. Inflationssorgen und der typische Reflex: Die EZB muss die Zinsen rechtzeitig erhöhen, die Haushalte müssen saniert werden, Schulden runter, Sparpolitik, zurück zur alten Bundesbank-Politik.
Wir stehen in Europa und ganz besonders in Deutschland vor einer giftigen Kombination aus Preissteigerungen und nachlassendem Wachstum, einer Stagflation. Die wird sich zumindest vorübergehend nicht mehr vermeiden lassen. Wenn wir diesen reflexartigen Geld- und Wirtschaftsideologien der 80er-Ökonomieschule aus Deutschland und Österreich folgen, haben wir allerbeste Chancen, diese Stagflation zu einem länger wirkenden Giftcocktail auszudehnen.
Ursachen sind zum einen die massiv steigenden Importpreise für Öl und Gas, die sich teilweise mehr als verdoppelten. Hier entlädt sich ein Teil der Debatte nun über die erneuerbaren Energien. Das macht fassungslos, denn im Gegenteil ist die immer noch bestehende Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zudem aus politisch schwierigen Regionen der Grund, während die Erneuerbaren die Lösung sind. Nun wird in Europa über eine gemeinsame Energiepolitik gestritten. Ein später Zeitpunkt in einer Phase der Not. Die Europäer streben alle national Versorgungsautonomie an, jeder will seine Ideen durchsetzen, überall eine enorme Lobby der jeweiligen Industrie. Selbst jetzt noch kommt Kretschmer von der Kohlelobby nicht los. Auch dazu verheerende Kommentare unter den Medienberichten. Versäumnisse überall und das Ergebnis ist eine unverändert kollektive Abhängigkeit Europas zu Lieferungen aus Russland und der OPEC.
Die USA stehen an der Stelle entspannt an der Seitenlinie. Das Land ist kaum von Energie-Importen betroffen, leidtragende sind China und Europa. Wir haben so schnell keine Chance, gegen diese Preisspiralen etwas zu tun. Das ist strategisch in den letzten 30 bis 40 Jahren versäumt worden – aber kein Grund, das so fortzusetzen.
Eine weitere Ursache für die Stagflation sind die gestörten Lieferketten und die Engpässe bei vielen Produkten – insbesondere Halbleiter. Hier ist Deutschland in Europa besonders betroffen, weil unsere Industrie die Sache mit der Auslagerung an Zulieferer aus aller Welt am weitesten getrieben hat. Seit dem Erdbeben von Kobe in Japan, also bereits seit 1995, warnen Experten vergeblich, dass das System “überzüchtet” und viel zu fragil ist – nicht nur, aber ganz besonders bei uns. Was die Corona-Krise mit den Lieferketten angerichtet hat, ist natürlich dagegen ein Flächenbrand – und regional schwelt er weiter.
Das tiefe Problem an dieser Situation ist, dass es nur wenige Unternehmen mit Preissetzungsmacht gibt, die höhere Beschaffungspreise oder rückläufige Produktionsmengen an die Konsumenten weiter geben können. Das führt zu steigenden Preisen, also Inflation. Eine große Zahl von Unternehmen kann aber gar nicht mehr liefern oder muss die höheren Kosten selbst schultern. Diese geraten also unter erheblichen ökonomischen Druck.
Wir sehen in der Folge rückläufiges Wachstum bei steigenden Preisen. Wir sehen Unternehmen und Verbraucher in existenzieller Not. Das ist keine Inflation, die durch eine Überhitzung der Ökonomie und eine überschüssige Kaufkraft entsteht. Wer in dieser Situation ernsthaft eine Drosselung der Geld- und Fiskalpolitik fordert, hat entweder keine Ahnung oder ernsthaft die Absicht, eine hoffentlich in den nächsten 12 bis 16 Monaten zu erwartende Entspannung unbedingt zu verhindern.
Die Geldpolitik muss sich zweifellos wieder normalisieren und das Schuldenwachstum aus Finanz- und Coronakrise muss ebenfalls korrigiert werden – aber keinesfalls während Unternehmen und Verbraucher mit den wesentlichen Folgen der Krise noch zu kämpfen haben.
Wir brauchen nun ganz erhebliche Investitionen, um unsere strategischen Versäumnisse rasch aufzuarbeiten und zugleich unsere Ökonomie über diese schwierige Phase zu führen. Eine Verteuerung von Kredit wäre momentan Gift, eine Reduzierung der Geldmenge ebenso und die Staaten müssen an Digitalisierung sowie Infrastruktur herangehen – mit schuldenfinanzierten Sonderfonds, so dass die Mittel nicht in den Haushalten versickern.
Weder Schulden-, noch Sparpolitik sind gut oder schlecht, richtig oder falsch – es ist eine Frage der Rahmenbedingungen. Momentan müssen wir expansiv bleiben und erkennen, dass wir an der Giftpille der Stagflation gar nicht vorbei kommen. Wenn wir die mit der falschen Politik verhindern wollen, wird es eine Giftpackung!
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Patrick Hesse (Samstag, 30 Oktober 2021 09:08)
Wow! Guter Artikel! Danke!