DMZ – GESELLSCHAFT / LEBEN ¦ Dario Veréb und Raimond Lüppken ¦
KOMMENTAR
Zum zweiten Mal fand am vergangenen Samstag in Zürich ein sogenannter «Spaziergang» statt. Hinter dem harmlos anmutenden Begriff versteckt sich ein regelmässig stattfindender Super-Spreader-Event. Verantwortlich dafür ist die unbelehrbare Bewegung der Coronaskeptiker.
Wir stehen auf der Münsterbrücke, es ist kalt aber sonnig. Menschen lehnen sich an das Geländer und tragen ein selbstgefälliges Lächeln im Gesicht, wenn die Polizistinnen und Polizisten mit ihren Leuchtwesten an ihnen vorbeigehen. Man tratscht und lacht - miteinander und manchmal wohl auch über die Ordnungshüter. Diese suchen derweil das Gespräch und nehmen Personalien auf. Bei der Hans-Waldmann-Statue steht ein Kastenwagen, weiter hinten beschäftigen sich die Beamten mit einem Herrn, dem das Lachen vergangen zu sein scheint: Chrigi Rüegg, einer der Streamer der Szene und Initiator der Kundgebung erhält einen Platzverweis. Jetzt ist er gezwungenermassen schon wieder verschwunden, bevor seine Fans und Anhänger vor Ort ihn überhaupt zu Gesicht bekommen haben. Der graue Mercedes Sprinter der Einsatzleitung überquert die Brücke. Aus dessen Lautsprecher ertönt eine Frauenstimme: «Die Stadtpolizei hat Kenntnis davon, dass um 13:00 Uhr eine unbewilligte Kundgebung stattfinden soll. Die Polizei wird den geplanten Spaziergang nicht tolerieren. Bei Verstössen gegen die eidgenössische, kantonale Covid-Verordnung ist mit Kontrollen und Verzeigungen zu rechnen.»
Das Fahrzeug der Einsatzleitung auf dem Weg zur Münsterbrücke. (Bilder von Dario Veréb und Raimond Lüppken)
Auf dem Münsterhof sonnen sich ein einige Menschen, es sind aber weder Transparente zu sehen noch Rufe zu hören. Auf Masken verzichten die Herumstehenden ebenfalls. Bedenklich, wo doch auch die Mindestabstände niemanden zu kümmern scheinen. Eine grössere Menschengruppe läuft gemächlich der Limmat entlang, eine andere steigt zum Grossmünster empor, wo sie von weiteren Polizistinnen und Polizisten erwartet wird. Erneute Personenkontrollen, erneutes selbstgefälliges Lächeln. Eigentlich scheint alles recht friedlich, nur eben etwas belebter als sonst. Kein Lärm, keine Aufruhr. Und in dieser versammelten Stille lauert die Gefahr der neuesten Protestform, die in der Schweiz zum regelmässigen CoronaSpreading-Event zu mutieren droht. Die «Spaziergänger» bevölkern die Stadt - nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal - und können nicht davon abgehalten werden. Seit dem Frühjahr 2020, als die Schweizer Regierung Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus ergriff, demonstrieren in allen Schweizer Grossstädten kleinere und grössere Menschenansammlungen gegen die Beschneidung des öffentlichen Lebens. Schon früh mit von der Partie: Fahnen und T-Shirts von QAnon, Exemplare der rechten Expresszeitung und Flyer von Swiss Propaganda Research – Trägermedien für Verschwörungstheorien zur neuen Weltordnung und anderen kruden Thesen. An Spaziergängen, wie demjenigen vom vergangenen Samstag verzichtet man zwar auf sichtbare Meinungsäusserungen wie Plakate und Kleider - die Ideologie ist aber dennoch präsent: in den Köpfen der Anwesenden.
Ein «Ich habe ein Attest»-Button mit Judenstern: Eine Anspielung auf den Holocaust und eine der wenigen Zurschaustellungen von Narrativen
der Bewegung am 13. Februar. (Bilder von Dario Veréb und Raimond Lüppken)
Die Vor- und Feindbilder
Die Szene der Corona-Skeptikerinnen und -Skeptiker in der Schweiz orientiert sich stark an der QuerdenkenBewegung aus Deutschland: Man wedelt mit Bundesverfassung oder Grundgesetz, inszeniert sich in esoterischen Ritualen oder Meditation und sieht die politische Rechte als Verbündeten. Eine Studie der Universität Basel vom Dezember 2020 zeigt, dass die Massnahmengegner in Deutschland und der Schweiz sich aktuell mehr von den rechten Parteien verstanden fühlen als noch vor der Pandemie. Politikerinnen und Politiker der AfD und SVP traten schon mehrfach als Rednerinnen und Redner bei Kundgebungen auf. Die beiden Parteien fordern auch immer wieder die Beendung der Massnahmen und solidarisieren sich mit der Protestbewegung. Die Masse war ursprünglich auffällig heterogen, mittlerweile scheint man sich aber aneinander angeglichen zu haben. Man ist sich wortwörtlich näher gekommen.
Für viele ist der Protest gegen staatliche Massnahmen zum Lebensinhalt geworden, die Gleichgesinnten zum Familienersatz. Einige besuchen deshalb jedes Wochenende Proteste. Auch Zeit- und kostenintensive Reisen werden in Kauf genommen. So trifft man Mitglieder der Schweizer Szene auch bei Grossdemos in Deutschland und Österreich an, wo sie die eigene Nationalität stolz mit Fahnen und T-Shirts repräsentieren. Diese Internationalität ist der Szene wichtig. Damit will man zeigen, dass eine vereinte, länderübergreifende Front die Massnahmen – und nicht etwa das Coronavirus - bekämpft.
Ein Schweizer und eine Österreicherin repräsentieren Stolz ihre Heimat an einer Querdenken-Grossveranstaltung in Ravensburg am 26. Juli
2020.
(Bilder von Dario Veréb und Raimond Lüppken)
Das Feindbild ist einfach zu erkennen: Der Mund- und Nasenschutz wird als «Sklavenmaske» bezeichnet, Mindestabstände werden missachtet, Begrüssungen exzessiv mit Umarmungen und Küsschen zelebriert. Das gilt auch für die etwas ungewöhnliche Protestform des Spaziergangs. Häufig wird «der Maulkorb» absichtlich falsch getragen. Die Ausnahme: der sogenannte «Stille Protest», noch eine kreative Art des Widerstands.
Beim Stillen Protest parodiert man die Massnahmen, indem weisse Schutzanzüge, Handschuhe, Masken und sogar Schutzbrillen getragen werden. Auf den Schildern steht «Dein Atem tötet», «Hinterfrage nicht» und «Gehorche», wodurch die Massnahmen auf ironische Weise kritisiert werden. Diejenigen, die sich noch an die Gesetze der «Gesundheitsdiktatur» halten, sind Schlafschafe, blind gehorchende Unwissende. Ihnen steht eine internationale, eng vernetzte Bewegung gegenüber, die mittlerweile in Telegram-Chats sogar Gewaltdrohungen gegenüber Maskentragenden äussert.
Die unangebrachte Toleranz
Der bisher grösste Stille Protest fand am 6. Februar in Zug statt. Mehr als 800 Menschen beteiligten sich daran und laut einer Polizeimeldung hielt sich die Mehrheit «gut an die Regeln». Doch die Mehrheit entspricht in diesem Fall etwa 500 Personen, wie eigene Recherchen nahelegen. Das bedeutet, dass sich 300 Menschen – das sechzigfache der aktuell im Alltag erlaubten Gruppengrösse von fünf Personen – ohne Maske in Zug einfanden. Die Mehrheit bei einem Infektionsgeschehen ist kein Massstab, die unkritische Wiedergabe der Polizeimeldung durch die Medien deshalb äusserst fragwürdig. Besonders in Anbetracht der kürzlich erschienen Studie aus Deutschland, die belegt, dass durch die Corona-Demos geschätzte 16 bis 21'000 Infektionen zu beklagen waren, ist eine kritischere Berichterstattung über die sich massiv radikalisierende Bewegung nicht zu viel verlangt. Die Parallelen zwischen deutschen und Schweizer Protesten beweisen, dass die Erkenntnisse aus dem Nachbarland auch hier gelten. Das rasante Wachstum der Bewegung in den letzten Wochen stellt ein Gesundheitsrisiko dar. Die unangebrachte Toleranz von Seiten der Polizei und Medien begünstigt es weiter.
Nicht alle trugen am 6. Februar eine Maske. In den Medien sprach man jedoch nur von einer Mehrheit die sich “gut an die Regeln” gehalten
habe.
(Bilder von Dario Veréb und Raimond Lüppken)
Die Polizei mag bisher zurückhaltend agiert haben, weil die Gesetzeslage unklar ist: Ein Dreiviertel Jahr nach Einführung des Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr gibt es noch immer keine Methode zur Verifizierung von Attesten. Die Medien hätten dem Problem aber deutlich mehr Aufmerksamkeit schenken müssen. Manchmal stammen die zirkulierenden Fake-Atteste noch nicht einmal von Medizinern, sondern von Juristinnen oder Juristen. Medizinische Untersuchungen scheinen für die Ausstellung eines Attestes auch nicht notwendig zu sein: Es gibt ärztliche Atteste inzwischen sogar zum Download im Internet. Protestierende, die «oben ohne» reisen - gemeint ist hier «ohne Maske» - und bei Kontrollen Fake-Atteste vorlegen, kommen damit meistens durch. CoronaSkeptikerinnen und -Skeptiker nutzen das rigoros aus.
Die wiederkehrende Ignoranz
Ein Spaziergang mit Familie oder in Zweisamkeit: ein gemütliches Programm für das Wochenende und sicherlich nichts, was man an die grosse Glocke hängen müsste - in aller Regel zumindest. Chrigi Rüegg trommelte am 13. Februar aber hunderte Spaziergängerinnen und Spaziergänger zusammen und verwandelte den privaten Spaziergang in ein politisches Statement. Inspiriert wurde er - wie könnte es anders sein - durch ähnliche Anlässe der Protestszene in Deutschland. Um der häuslichen Isolation zu entgehen, mag er gut geeignet sein, doch in seiner politisierten Art wird der Zeitvertreib an der frischen Luft zum Infektionsgeschehen. Die zahlreichen Protestierenden, die am vergangenen Samstag auf der Münsterbrücke, im Niederdorf und bei der Urania-Wache spazieren gingen, verzichteten bewusst auf Maske und Mindestabstand. Ihre Protestform tönt harmlos, stellt jedoch für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sowie diejenigen, die mit ihnen in Kontakt treten, ein ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko dar.
Ohne das grosse Polizeiaufgebot hätte es vermutlich noch viele weitere Berührungspunkte gegeben und die Anwesenden hätten nicht nur gemeinsam gesungen, sondern auch Hand in Hand getanzt oder untereinander den «Zvieri» geteilt - wie es beim ersten Zürcher Spaziergang am 30. Januar trotz strömenden Regens der Fall war. Damals hatte die Stadtpolizei die Gruppengrösse deutlich unterschätzt. Während die Ordnungshüter also aus ihren Fehlern gelernt und mit grösserem Aufgebot den Corona-Spreading-Event zu verhindern versucht haben, legen die Protestierenden keinen nachweislichen Lerneffekt an den Tag: Laut der Stadtpolizei wurden am 13. Februar 150 Wegweisungen rundum die Zürcher Altstadt ausgesprochen, doch der nächste Spaziergang ist bereits wieder für den 27. Februar angekündigt. In knapp zwei Wochen werden die Protestierenden sich also erneut treffen und ihre Mitmenschen in Gefahr bringen. Die Frage, ob diese anfangs harmlos erscheinende Protestform als regelmässiger Superspreader-Event in Zürich bestehen bleibt, lässt sich traurigerweise nur wie folgt beantworten: Die Ignoranz der Querulanten lässt es vermuten.
Auch beim nächsten Spaziergang wird die Polizei wieder mit Grossaufgebot auffahren müssen, denn die Massnahmengegnerinnen und -gegner
wollen die Folgen ihres Handelns nicht wahr haben. (Bilder von Dario Veréb und Raimond Lüppken)
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