DMZ – BILDUNG ¦ Tony Lax ¦
KOMMENTAR
„Ich habe grosse Befürchtungen, dass hier eine Generation von jungen Leuten gross wird, die sich gar nicht mehr daran erinnern können – weil sie es gar nicht erlebt haben – wie schön das war –, als Kind lebendig zu sein.“ (Gerald Hüther)
Das ist ein erschreckender und womöglich zutreffender Befund.
Ein paar mäandernde, vielleicht "fitznasige"* Überlegungen dazu:
Wer Gerald Hüther kennt, weiss, dass er diese Befürchtungen schon seit Jahren thematisiert, und sie längst schon vor dem gegenwärtigen Coronamassnahmen-Diskurs auf den Tisch gebracht hat. Er weist in seinen Büchern, Vorträgen und Interviews immer wieder eindringlich darauf hin, dass unser Bildungssystem und unsere Erziehungsvorstellungen die Kinder - nicht ausschliesslich, aber doch nicht unwesentlich - zu möglichst gut funktionierenden, aber (lebens)lustlosen Einzelkämpfern in einer stressbasierten Wettbewerbsgesellschaft dressieren, damit sich die Kids als Erwachsene in ein moralloses Wirtschafssystem eingliedern, sich darin behaupten können - und es dadurch nähren. Und während sie (und wir) dieses System alimentieren, gibt es immer mehr, die seelisch dabei und darin verhungern.
Daher sollte die Corona-Krise, angesichts derer Prominenz wir zu stark aus dem Blick verlieren, dass sie innerhalb und neben weiteren Krisen stattfindet, Anlass dazu sein, dass wir uns grundsätzlicher mit der Grundsatzfrage, wie wir eigentlich leben und welche Gesellschaft wir eigentlich haben wollen, auseinandersetzen.
Auseinandersetzen, indem wir uns zueinander setzen; was physisch zwar gerade etwas schwierig ist, doch ich meine damit weniger ein Setting als vielmehr eine Haltung:
Diskutieren zu wollen, statt polarisieren müssen zu glauben.
Wir sollten uns vielleicht gerade hier und jetzt und endlich auch mit dem unliebsamen Gedanken beschäftigen, dass die in Corona-Zeiten so sehnlich zurückgewünschte Normalität nichts anderes als ein ganz normaler Mechanismus (geworden) ist, der (ganz normal) existenzielle Krisen produziert.
Bundespräsiden Parmelin bediente sich in seiner Rede zum Auftakt des virtuellen WEFs eines bekannten Spruchs von Max Frisch, demgemäss die Krise ein "produktiver Zustand" sein könne, wenn man ihr den "Beigeschmack des Katastrophischen" nähme.
Ich habe das ungute Gefühl, dass unsere kollektiven wie auch die individuellen Krisenbewältigungsstrategien allesamt einen ziemlich katastrophischen Beigeschmack haben.
Wobei es diesbezüglich in Sachen Corona wohl unerheblich ist, ob wir uns dabei eher der Schlafschaf- oder eher der Rebellenfraktion zuordnen möchten. Die konstruktive Kraft des Rechthabens wird masslos überschätzt.
Walter Benjamin ging schon Mitte der Dreissigerjahre des letzten Jahrhunderts so weit, den Begriff des Fortschritts in der Idee der Katastrophe zu fundieren: "Dass es 'so weiter' geht, ist die Katastrophe", fand er und berief sich dabei auf Strindbergs dunklen Gedanken, dass die Hölle nichts sei, was uns bevorstünde, sondern bereits dieses Leben hier.
Erich Fried fügte dem etwas mehr als vierzig Jahre später hinzu: "Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt."
Strindberg meinte allerdings auch, dass die Hölle kein Ort sei, "sondern ein Zustand des Gemüts, der alles um sich her in ein Inferno verwandelt.“
Achten wir also darauf, dass sich unsere Gemüter nicht in Zustände bringen lassen, in denen oder aus denen heraus wir alles um uns herum in ein Inferno zu verwandeln gedrängt fühlen. Vielleicht sollten wir beim Gedanken an die vielbeschworene "neue Normalität" auch nicht an irgendwelche Idee von Normalität denken, von der irgendjemand feurig daherredet.
Es gibt gute und schlechte Feuer, wärmende und zerstörende und in wessen Herzen ein gutes brennt, der braucht nicht zu gefährlich zündeln.
Es fügt sich an die Befürchtung Gerald Hüthers, eine weitere. Nämlich die, dass sich die Kinder, jetzt schon digital absorbiert, zwar nicht an ein lebendiges Kindsein, dafür aber an ein im Streit der Erwachsenen(generation) zerrissenes Sein und Werden, in welchem sie sich vorwiegend virtuell integriert und eingebettet fühlen durften, erinnern können.
Ob man das für eine Katastrophe halten möchte oder nicht, ist nun vielleicht auch eine Frage des (Bei-)Geschmacks.
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* Die Fitznase ist eine nasenrümpfende Person, wie mir das heutige Kalenderblatt des Grimm’schen Jahreskalenders bekanntgemacht hat.
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