DMZ – GESUNDHEIT / WISSEN ¦ Walter Fürst ¦
KOMMENTAR
Langsam aber sicher verhärtet sich der Verdacht, dass der Star-Virologe Hendrik Streeck vom richtigen Weg abgekommen ist. Denn seine Äusserungen sind meist zweideutig oder mindestens kann man diese missverstehen und missdeuten. Nun lässt er sich sogar dazu hinreissen falsche Informationen abzugeben. Wider besseren Wissens, denn er ist ein Experte, ohne Frage. Er behauptet, es hätte in Deutschland bislang keinen exponentiellen Anstieg der Corona-Infektionszahlen gegeben. Auch die aktuelle Zunahme sei linear. In beiden Fällen irrt Streeck jedoch. Fahrlässig und gefährlich. Er spielt damit erneut den Coronaskeptikern in die Karten. Denn in der Skeptiker Ecke wird nichts hinterfragt, sondern nur geglaubt, was man glauben will.
Hendrik Streeck (43) gehört zum Corona-Jet-Set Deutschlands, was ihm augenscheinlich grossen Spass bereitet. Er pendelt von Talkshow zu Talkshow, von Interview zu Interview. Seit letztem Jahr ist der Medizinprofessor Direktor des Instituts für Virologie an der Universität Bonn. Eine steile Karriere. Aber die Sachlichkeit hat ihm von Anfang an gefehlt, so dass er gegen Drosten nicht bestehen kann. Streeck hat mehrfach gefährliche und unklare Äusserungen von sich gegeben. Dies ist sehr gefährlich, was die Folgen draus klar gezeigt haben. Er sorgt für Unsicherheit währenddessen Drosten immer auf Ruhe und Sachlichkeit bedacht ist.
Aufmerksamkeit erregte er ausserdem, indem er frühzeitig die Rücknahme von Corona-Beschränkungen empfahl und den Berliner Virologen Christian Drosten, ein weiterer Corona-Superstar, öffentlich kritisierte. Die anfänglichen strengen Corona-Regeln befürwortete er zwar, wollte aber früher als andere Lockerungen zulassen. Eine falsche Annahme, was Lockerungen klar aufgezeigt haben - geplante und auch Lockerungen, die durch Missachtung der Massnahmen erfolgt sind.
In einem kürzlichen Interview mit dem Nachrichtensender n-tv relativierte Streeck die Bedeutung der Infektionszahlen. Diese müssten in Relation zu anderen Kennzahlen gesehen werden, wie zum Beispiel der Anteil der belegten Intensivbetten in Krankenhäusern. Auf die Frage, ab welchem Kipppunkt mit schlagartig steigenden Neuinfektionen zu rechnen sei, antwortete er, dass es einen derartigen Kipppunkt in Deutschland nicht gegeben hätte. Er ging sogar noch weiter und sagte: „Wir hatten bislang nie einen exponentiellen Anstieg. Auch jetzt sehen wir eher einen linearen Anstieg.“ Dass sich Streeck hier irrt ist nicht anzunehmen, es ist eine klare Falschaussage. Er als Experte muss das wissen.
Bei Markus Lanz, wo er Dauergast ist, legte er sogar nach: Als der Moderator Bundeskanzlerin Angela Merkel zitierte, die die Gefahr von bis zu 19.200 täglichen Neuinfektionen um Weihnachten sieht, entgegnete Streeck wir hätten derzeit „eine Dauerwelle, aber mitnichten diese stark steigende exponentielle Kurve.“ Erneut falsch. Er irrt also gleich zweimal oder verbreitet zweimal Blödsinn. Erstens haben wir bereits einen exponentiellen Anstieg hinter uns, nämlich im Frühjahr. Es kann also keine Rede davon sein, dass wir „bislang nie einen exponentiellen Anstieg“ hatten (Streeck). Und zweitens, sind die derzeitigen Neuinfektionen auch exponentiell, wenn auch noch lange nicht so stark wie im Frühling. Die Gefahr ist aber, dass die Geschwindigkeit stark zunimmt, mit der sich das Virus in der anstehenden kalten Jahreszeit verbreitet – eben exponentiell.
Was einen Experten dazu bringt solche falsche Aussagen in der Öffentlichkeit zum besten zu geben ist nicht nachzuvollziehen. Die Gefahr, die durch solche Falschaussagen zur Folge hat ist offensichtlich. Massnahmen-Kritiker werden gestärkt, noch unsichere Menschen werden ebenfalls zu Kritikern.
Was heisst exponentielles Wachstum beim Coronavirus?
Zur Veranschaulichung von exponentiellem Wachstum gibt es eine uralte Geschichte von zeitloser Gültigkeit:
Vor langer Zeit wurde in Indien das Spiel Schach erfunden, das auf einem Brett mit 64 Feldern gespielt wird. Der Indische Kaiser Sheram wollte den Erfinder dieses Spieles, Zeta, belohnen, da er grossen Gefallen an dem Spiel gefunden hatte. Zeta sollte als Belohnung einen Wunsch äussern und dabei nicht zu bescheiden sein. Dieser sagt darauf: „Gebieter befiel, mir für das erste Feld des Schachbrettes 1 Reiskorn auszuhändigen, 2 Körner für das zweite Feld, 4 für das dritte und für jedes weitere Feld doppelt so viele Körner wie für das vorhergehende“. Der Kaiser fühlte sich gekränkt, da ihm das Ausmass des Wunsches noch nicht bewusst war. Viele Menschen sind heute augenscheinlich genauso schlau wie einst Kaiser Sheram.
Rechnen wir: 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512, 1.024, 2.048, 4.096, 8.192, 16.384, 32.768, 65.536, 131.072, 262.144, 524.288, 1.048.567…
Auf dem 64. Feld liegen dann 9.223.372.036.864.775.808, also 9 Trillionen, 223 Billiarden , 372 Billionen, 36 Milliarden, 864 Millionen, 775 Tausend, 808 Reiskörner.
Auf allen 64 Feldern zusammen befinden sich 18.446.744.039.484.029.952, also 18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 39 Milliarden, 484 Millionen, 29 Tausend, 952 Reiskörner.
306.000 Millionen Tote
Auf die Pandemie übertragen entspricht dies einem einzigen infizierten Menschen und einer Ansteckungsrate von 2 (jeder Infizierte steckt zwei Menschen an). Solange die Rate unter 1 ist, verursachen die Infizierten weniger Neuinfektionen, bei über 1 mehr Neuinfektionen, bei 2 gilt die „Schachbrett-Formel“. Allerdings reden wir bei der aktuellen Pandemie nicht von Reiskörnern, sondern von Menschen. Nehmen wir die in Deutschland gemessene Sterblichkeitsrate von rund 3,4 % an; in einigen Ländern wird sie niedriger sein, in vielen höher. Die Weltbevölkerung umfasst nicht 18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 39 Milliarden, 484 Millionen, 29 Tausend, 952 Menschen, sondern „nur“ 7,79 Milliarden Menschen. Wenn 3,4% davon sterben, entspricht das 306 Millionen Toten.
Zum Vergleich: Die Spanische Grippe hat rund 50 Millionen Menschen das Leben gekostet, etwa ebenso viele Menschen sind im Zweiten Weltkrieg zu Tode gekommen. Die Pest hat rund 25 Millionen Menschen dahingerafft.
Mal ehrlich: Die meisten von uns hätten genau wie einst Kaiser Sheram das exponentielle Wachstum unterschätzt, wenn wir ganz ehrlich sind, nicht einmal verstanden.
Ein Wachstum ist also dann exponentiell, wenn es in gleichen Abständen um den Multiplikationsfaktor wächst. Streeck wird dies mit Sicherheit auch wissen.
Wäre es nicht zum Lockdown gekommen, so wären die Infektionszahlen wegen des exponentiellen Wachstums noch viel stärker angestiegen. Möglicherweise hätten sie sich entlang der berechneten Regressionskurve entwickelt, wenn die Menschen ihr Verhalten nicht angepasst hätten. Die Auswirkungen auf das Gesundheitswesen wären wohl katastrophal ausgefallen, so wie es in Italien der Fall war.
Ab Anfang Juli gehen die Neuinfektionszahlen wieder hoch. Anfangs zunächst noch sehr moderat, spätestens mit dem Reiserückverkehr nach Ende der Schulferien durchaus spür- und messbar. Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht sich veranlasst, die Bevölkerung vor einem erneuten exponentiellen Wachstum der Neuinfektionen zu warnen. Dieses könne sogar das Wachstum im Frühjahr übertreffen und bis Weihnachten bei 19.200 täglichen Infektionen liegen, so die Kanzlerin.
Die tatsächlichen Zahlen und die Schätzwerte sprechen dafür, dass eher die Kanzlerin Recht hat als Streeck.
Daher sind Hendrik Streecks publikumswirksam vorgetragene und wiederholte Aussagen, dass wir noch nie ein exponentielles Covid-19-Wachstum hatten und dass wir auch keines zu befürchten haben, gefährlich. Die Politik muss ihre Entscheidungen fakten- und evidenzbasiert treffen. Öffentlichen Aussagen von Wissenschaftlern kommt daher eine grosse Bedeutung zu. Streeck sitzt in der ersten Reihe derer, denen zugehört wird. Irrt er sich mit seinen Einschätzungen, so kann dies zu Fehlentscheidungen grosser Tragweite beitragen. Die Datenlage spricht dafür, dass er sich irrt. Für eine Corona-Entwarnung ist es noch viel zu früh.
Es wäre zu begrüssen, wenn Streeck sich besser an seinen klaren Meinungen orientiert. Denn der Leiter der Heinsberg-Studie hat im Kreis Heinsberg mit seinem Team herausgefunden, dass das Virus „mindestens viermal gefährlicher ist als eine saisonale Grippe“. Darauf deuteten auch alle Studien hin, die bisher durchgeführt wurden. Das sind Fakten, die unaufgeregt und sachlich daherkommen. Verharmlosungen oder gar falsche Informationen wie im vorliegenden Fall sind aktuell Fehl am Platz.
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