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Der Gedenkanlass, welcher für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen bis 1981 unter anderem vom Departement des Innern des Kantons St. Gallen, am 21. September 2019 in der Lokremise St. Gallen organisiert worden war, wurde im Vorfeld der Öffentlichkeit kaum bekannt gemacht, da es sich gemäss Departement des Innern in erster Linie um einen an die Betroffenen und ihre Angehörigen gerichteten Anlass handle.
Dennoch war die Lokremise in St. Gallen am 21. September 2019 ab 14 Uhr zum Bersten voll, als sich jene Menschen dort einfanden, welche der Einladung des Kantons St. Gallen gefolgt waren. Sie kamen, um die offizielle Entschuldigung für das vom Staat und seinen Institutionen begangene Unrecht wenn nicht an- so doch hoffentlich wenigstens wahrzunehmen, wie es Regierungsrat Martin Klöti in seiner Rede formulierte. Die offizielle Entschuldigung dafür, Opfer einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme des Kantons vor 1981 geworden zu sein, was - wie in den Beiträgen aller Redner am Gedenkanlass zum Ausdruck kam - fast immer mit Willkür, Unrecht, auch Gewalt und Missbrauch für die Betroffenen einherging und einem Denken entsprang, welches Menschen in zwei oder mehr Klassen einteilte.
Lukas Gschwend, Professor für Rechtsgeschichte an der Universität St. Gallen erklärte, dass in vielen europäischen Staaten, Systeme wie jenes in der Schweiz - worin Schutz- und Präventionsgedanken sowie Zivil- und Strafrecht bis zur Unkenntlichkeit miteinander verflochten gewesen seien - zu irgendeinem Zeitpunkt installiert worden seien.
Die Besonderheit der Schweiz habe darin gelegen, dass die entsprechenden Strukturen sich derart lange hätten halten können, während in vielen westeuropäischen Staaten die Schrecken des 2. Weltkrieges und die danach einsetzende Aufbruchstimmung und Bereitschaft Menschenrechten innerhalb des Staates zur Nachachtung zu verhelfen, eine Neuschaffung der Strukturen in diesem Bereich Jahrzehnte früher bewirkt habe. Die Schweiz habe aus ihrem Selbstverständnis heraus die Menschenrechte nicht gebraucht und ratifizierte diese 1974 sehr spät. Danach wurden nochmals ganze sieben Jahre benötigt, um auf eidgenössischer Ebene jene Bestimmungen zu erlassen, welche dem Tenor des Gedenkanlasses entsprechend aus heutiger Sicht einen Wendepunkt für die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen Betroffenen dargestellt haben sollen. Der als häufiger Vertreter von Opfern seit 1981 am Gedenkanlass anwesende Trogener Rechtsanwalt Tim Walker sagte im Nachgang zur Veranstaltung, dass diese Darstellung eines Wendepunktes ab 1981 als öffentlichkeitswirksame Propaganda zu betrachten sei, welche verschleiere dass auch in den letzten 40 Jahren noch sehr viel geschehen sei, was nicht hätte geschehen und seitens der Justiz geschützt werden dürfen. Er, wie auch andere seiner systemkritischen Berufskollegen, erlebten in der Praxis täglich, dass angeordnete Zwangsmassnahmen dazu dienten den Willen jener zu brechen, welche sich bei den Behörden unbeliebt machten, wenn sie sich für ihre oder die Rechte anderer einsetzten. In der Terminologie der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden und ihrer Helferinstitutionen heisse es dann jeweils, dass der Betroffene nicht kooperationsbereit oder uneinsichtig sei. Zwecks angeblichem Schutz und angeblicher Prävention vor kaum bis gar nicht konkretisierten hypothetischen künftigen Gefährdungen führe dies wahlweise dazu, dass jemand hochdosiert zwangsmediziert oder mitunter wochenlang isoliert festgehalten würde, ihm oder ihr von einem Tag auf den anderen die Kinder mit Polizeigewalt entrissen würden, Kontaktrechte zwischen Eltern und Kindern willkürlich auf ein Minimum reduziert oder ganz ausgesetzt würden u.v.m.
Wer heute ein angeblich nicht gesellschaftskonformes Leben führe oder sich auffällig verhalte, habe ebenso wie früher damit zu rechnen schnell einmal als krank oder nicht erziehungsfähig hingestellt zu werden, wodurch er oder sie die gesamte Macht staatlichen Handelns zu spüren bekäme. Die Justiz, welche die Aufgabe hätte einzuschreiten, habe weitestgehend versagt und winke mehr als 95 % Prozent der vor sie hingetragenen Fälle durch, weil das verfilzte Netz jahrelanger sog. Zusammenarbeit unter den stets gleichen Behörden, Gerichten, Gutachtern und Kindesverfahrensvertretern wie auch daraus resultierender wirtschaftlicher Abhängigkeiten kaum zu durchbrechen sei. Etwas vom Schlimmsten sei, dass der Rechtsschutz der Betroffenen zudem nicht sofort greife weil die Zwangsmassnahmen sofort umgesetzt würden und meist erst Monate später, gelegentlich sogar Jahre später, die Massnahmen auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüft würden. Es heisse im Kindes- und Erwachsenenschutzbereich fast immer es müsse sofort gehandelt werden - die Rechtskontrolle dürfe fast beliebig auf später verschoben werden, nachdem die Betroffenen und ihnen nahestehende Personen bereits massiv traumatisiert wurden.
"Ich bitte Sie hinzuschauen, die Augen offen zu halten, auch heute" diese Worte stammen von Werner Fürer, welcher am 21. September 2019 am Gedenkanlass für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen bis 1981 als damals Betroffener aufgefordert war Erlebnisse zu schildern, welche er als Kind und Jugendlicher im Kinderheim Riederenholz in St. Gallen und im Kinderheim Thurhof in Oberbüren machte. Ein ehemaliger Betroffener war bezeichnenderweise der einzige Redner am Gedenkanlass, welcher das Hier und Heute gegen Ende seiner Rede explizit in den Fokus rückte. Er könne sich glücklich schätzen, nie sexuellen Missbrauch oder Medikamentenversuche erlitten zu haben. Diskriminierungen aufgrund dessen ein Heimkind gewesen zu sein, wie auch Zwangsarbeit und Gewalt durch Mitarbeiter in den Heimen habe er gleichwohl zu ertragen gehabt. Nein, es war keine unbeschwerte Kindheit und Jugend, auch nicht gemessen an den damaligen gesellschaftlichen Vorstellungen einer solchen.
Dass den Kindern und Jugendlichen, welche von staatlichen Zwangsmassnahmen betroffen waren gerade diese Unbeschwertheit genommen wurde, daran sollte mit einem am Gedenkanlass eingeweihten Brunnen auf dem Spielplatz Kreuzbleiche erinnert werden. Der schlichte Brunnen wurde in enger Zusammenarbeit mit Betroffenengruppen vor 1981 konstruiert und auf der angebrachten Inschrift ist zu lesen "Gewidmet den Menschen, die Opfer fürsoregerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen wurden".
Der Brunnen als Hoffnungssymbol, als Spender von lebenswichtigem Wasser. Der Brunnen werde von Kindern und Jugendlichen in Beschlag genommen werden und Erwachsene würden vielleicht einen Moment inne halten und die Inschrift lesen, sagte Stadträtin Sonja Lüthi auf dem Spielplatz Kreuzbleiche. Alles gut und hoffnungsvoll?
"Mitnichten" lautet die Botschaft von Jasminka Brcina, Kinder- und Erwachsenenschutzvereinigung, KESV, welche am Gedenkanlass in der Lokremise die heutigen Betroffenen, die Opfer staatlicher Massnahmen, Willkür und Gewalt nach 1981 stellvertretend präsentierte. Dies, in einem spontanen Akt von Zivilcourage unter den aktuell Betroffenen, welche aus Solidarität mit den Opfern vor 1981 teils von weit her angereist waren. Bereits vor dem Gedenkanlass kam es zwischen Jasminka Brcina, KESV und verschiedenen geladenen Rednern und Verantwortungsträgern, u. a. Regierungsrat Martin Klöti, mehrfach zu konstruktivem Austausch. Davide Scruzzi, Generalsekretär des Departements des Inneren wie auch die Moderatorin des Gedenkanlasses liessen es zu, dass den heutigen Betroffenen eine spontane Plattform und immerhin 5 Minuten öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde, um durch ihr Hinstehen zu zeigen und zu sagen, dass ein Hinschauen nötig ist, dass der Unrechtsstaat aus Sicht von Zwangsmassnahmen- Betroffenen und die damit verbundene staatliche Willkür nach 1981 leider nicht geendet hätten.
Regierungsrat Martin Klöti, hatte sich zuvor in seiner Rede empathisch bei den im Saal anwesenden Opfern bis 1981 entschuldigt und eine von Unrechtsbewusstsein gezeichnete Analyse staatlicher Willkür und der im Auftrag staatlicher Behörden agierenden Mitbeteiligten ? u. a. auch Kirchen, Bauernverbände und Pflegefamilien - vorgetragen, ja sogar eine Reihe von ca. 10 oftmals noch heute wirkenden Institutionen im Kanton St. Gallen beim Namen genannt, in welchen es gemäss Recherchen besonders oft zu Unrecht, Misshandlung, Missbrauch usw. gekommen sei. Nicht ganz zu diesem Bild und der vielen Einsicht passte es da, als er der Gruppe ganz in schwarz mit grüner Ansteckblume gekleideter Betroffener heutiger Zeit entgegenhielt, nun könnten ja die rechtsstaatlichen Mittel genutzt werden. Die Überforderung und Hilflosigkeit angesichts einer Realität und Wahrheit, die mit uns und dem Hier und Heute zu tun hat, erstaunt nicht. Dennoch darf sie weder den Einzelnen noch Staat und Gesellschaft vor der Übernahme der Verantwortung für die Gegenwart schützen.
Es sei ein Versagen des damaligen Systems auf ganzer Linie gewesen, konstatierte Professor Lukas Gschwend, denn nicht nur seien die eingesetzten Massnahmen an sich inakzeptabel gewesen, vielmehr seien diese völlig ungeeignet gewesen die beabsichtigten Ziele zu erreichen und hätten gerade jene Entwicklungen und Umstände im Leben der Betroffenen verursacht, welche man vorgab mit den Zwangsmassnahmen verhindern oder präventiv therapieren zu wollen. Die Betroffenen gerieten durch die gesellschaftliche Stigmatisierung (welche wiederum Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit und die Gründung einer intakten Familie beeinträchtigte oder verhinderte) und durch die erlebten Traumata viel zu oft in eine Spirale von Armut, weiteren Versorgungen und Einsperrungen, unehelicher Schwangerschaft, Zwangssterilisation, Kindeswegnahmen etc. Die Betroffenen hätten nicht zu erwarten gehabt, dass ihrem Erleben Gehör oder Glauben geschenkt worden wäre gegenüber den Darstellungen von gesellschaftlich integrierten und angesehenen Leuten wie Ärzten, Heimleitern, Heimmitarbeitern, Gemeindebehördemitgliedern, Pfarrer, Lehrer, tüchtiger Bauersleute usw.
Eine Systematik von Ungleichheit und absoluter Macht der staatlichen Entscheidungsträger gegenüber den von diesen Entscheiden Betroffenen und der gleichzeitigen systematischen Darstellung der Betroffenen als durch Verhalten, Charakter oder soziale Herkunft jenseits der Gesellschaft stehenden und für die Gesellschaft mitunter gefährlichen Menschen war die Grundlage für individuell oder kollektiv umgesetzten Machtmissbrauch, Willkür und seelische und körperliche Gewalt.
Wenn Betroffene heute, repräsentiert u. a. durch Jasminka Brcina, Präsidentin der KESV (Kindes- und Erwachsenenschutz Vereinigung) sagen, viele der Reden anlässlich des Gedenkanlasses hätten mit einer kleinen Anpassung auch für die heutige Zeit gepasst, so lässt dies aufhorchen. Die behauptete Rechtsstaatlichkeit, namentlich die durchgeführten Anhörungen seien eine Farce. Der Entscheid stehe in vielen Fällen vor der Anhörung bereits fest. Als besonders perfides Instrument kämen sog. superprovisorische Entscheide zum Einsatz, gegen die kein Rechtsmittel gegeben sei. Jasminka Brcina, KESV: ?Die Behörden entscheiden ohne Einbezug der Betroffenen über deren Köpfe hinweg und traumatisieren Kinder indem sie unter Einsatz der Polizei in eine für sie völlig fremde Umgebung gebracht werden. Danach werden Fakten geschaffen bis dann - innerhalb von 10 Tagen ? die Betroffenen angehört werden. Oft dürfen die Eltern ihre Kinder zuerst tage- oder wochenlang nicht sehen oder sprechen und die involvierten Institutionen bestätigten immer, dass es den Kindern sehr gut gehe, sie sich schon bestens eingelebt hätten und es nur schon deshalb kindeswohlgefährdend wäre sie wieder aus diesem Umfeld heraus zu nehmen. Nachdem die Beziehung zwischen Eltern und Kindern auf diese Weise unterbrochen und verhindert wurde, heisst es dann jeweils, es sei nötig den Kontakt zwischen Eltern und Kindern wieder langsam und begleitet aufzubauen. Auch wird den Entscheiden durchwegs die aufschiebende Wirkung entzogen, wodurch der geschaffene Status quo bis zu einem anderslautenden Entscheid eines oberen kantonalen Gerichts oder des Bundesgerichtes fortgesetzt wird. So vergehen Wochen, Monate, teils Jahre in denen die Betroffenen einer fortdauernden Verletzung ihrer Grund- und Menschenrechte ausgesetzt sind. Genug Zeit, um betroffene Menschen oder Familien nachhaltig und mitunter für immer seelisch und in ihren gelebten Beziehungen zu zerstören. Was hat uns da die Einführung der Menschenrechte tatsächlich gebracht?"
Und tatsächlich, wer sich beim Apéro am Schluss bei den vielen auch persönlich geführten Gesprächen umhörte, hätte den Unterschied in den Schilderungen zwischen dem Damals und dem Heute kaum erkennen können. Wie brutal ist die Geschichte einer Mutter aus dem Jahr 2018, deren Neugeborenes ihr unter Vollnarkose aus dem Bauch geschnitten und - ohne, dass sie es nach der Geburt sehen kann - während Monaten geheim platziert wird, weil die Behörden eine geistige Behinderung bei der Mutter vermuten und der Partner der Mutter als Behördenfeind gilt? Wie sehr erinnert es einen an die geheimen Zwangssterilisationen früherer Zeiten, wenn einer ? gemäss Psychiatern weder selbst- noch fremgefährdeten - Alleinerziehenden während einer von der KESB gewünschten fürsorgerischen Unterbringung der Frau vor der Entbindung ihres zweiten Wunschkindes eine Sterilisation vom Frauenarzt im Jahr 2014 ?angeboten? wird? Auch die Geschichte einer Mutter aus dem Jahr 2016, der man eine Schizophrenie unterstellte nachdem sie sich für ihren Sohn eingesetzt hatte, weil es im Schulheim zu sexuellen Übergriffen gekommen war, erinnert sehr an die am Gedenkanlass gehörten Ausführungen der verschiedenen Fachleute, wonach sich Behörden unliebsame Störenfriede durch Diskreditierung und Wegsperren vom Leib gehalten hätten.
Regierungsrat Martin Klöti drückte seine Dankbarkeit darüber aus, dass die Betroffenen am Gedenkanlass seien, denn auf sie ? die Betroffenen ? sei der Staat angewiesen für die Aufarbeitung, die Reflexion. Hoffen wir, dass aus dieser Dankbarkeit der Mut erwächst, welcher nötig ist auch heutiges Unrecht zu benennen, künftiges zu verhindern und allen Betroffenen auf Augenhöhe zu begegnen, sie ernst zu nehmen, nicht nur dem an sich sehr viel Spielraum offenlassenden Buchstaben des Gesetzes nach, sondern mit offenem Geist und offenem Herzen.
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